terça-feira, 9 de setembro de 2008

Zur Theorie der juristischen Fiktionen.Mit besonderer Berücksichtigung von Vaihingers Philosophie des Als Ob.

Von
Dr. Hans Eelsen,

a, ö. Professor an der Universität in Wien.

Inhaltsübersicht.

I. Der Begriff der Fiktion und der Gegenstand rechtswissenschaftlicher Er-
kenntnis. Der Widerspruch zur ,, Wirklichkeit". Die Natur-Wirklichkeit und die
Rechts-Wirklichkeit. Die Erweiterung des Vaihingerschen Fiktionenbegriffes.
Echte Fiktionen der Rechtstheorie. Das Rechtssubjekt.

II. Die sogenannten ,, Fiktionen" der Rechtspraxis. Die Pseudofiktionen
des Gesetzgebers. Ihr prinzipieller Unterschied gegenüber den erkenntnistheo-
retischen Fiktionen; Mangel des Erkenntniszwecks und des Widerspruchs zur
Wirklichkeit der Natur wie des Rechtes. Der Art. 347 des Deutschen Handels-
gesetzbuches. Die praesumptio juris. Die prätorischen Fiktionen.

III. Die „Fiktionen" der Rechtsanwendung. Die Analogie. Ihr unkorrigier-
barer Widerspruch zur Rechts-Wirklichkeit und ihre juristische Unzulässigkeit.
Die rechtlich gebotene Analogie.

IV. Rechtstheorie und Rechtspraxis. Die moralische Fiktion der ,, Freiheit".
Ihre Entbehrlichkeit bei Aufhebung des fehlerhaften Synkretismus von Seins- und
Sollens-Betrachtung. Die Fiktion des „Staatsvertrages". Ihre Entbehrlichkeit
vom Standpunkte des Rechtspositivismus.

V. Die Souveränität der Rechtsordnung. Die Unabhängigkeit des Rechts
von der Moral. Der angeblich fiktive Charakter dieser Isolierung. Die „prak-
tischen" Fiktionen Vaihingers. Die Rechtsnorm und die Rechtspflicht keine
Fiktionen.

I.

Seine bedeutende Theorie der Fiktionen hat Vaihinger nicht
zum geringsten Teil an den „juristischen" Fiktionen entwickelt.
Die juristische Fiktion erklärt er geradezu für einen der charak-
teristischen Typen dieses Vorstellungsgebildcs. Er meint, daß es
neben der Mathematik fast kein Gebiet gäbe, das zur Deduktion
logischer Gesetze und Illustrierung oder Entwicklung logischer
Methoden im allgemeinen und der Fiktionsmethode im besonderen
passender wäre, als gerade das Jus. Und er bedauert, daß die
Logiker sich gerade die juristische Fiktion haben entgehen lassen,
weil sie überhaupt nicht einsahen, daß die Logik ihr Material aus



Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 5^1

der lebendigen Wissenschaft zu entnehmen hiibe.^) Für Vai-
hinger ist die juristische Fiktion eine , .wissenschaftliche" Fik-
tion^) und prinzipiell identisch mit den erkenntnistheoretischen. 3)
Er betont ausdrücklich, ,,die formale Identität der Vcrstandes-
handlung und des ganzen Vorstellungszustandes in den juridischen
Fiktionen mit den anderen wissenschaftlichen Fiktionen".'*) —

Unter der Bezeichnung der „juristischen Fiktion" werden
jedoch sehr verschiedene Erscheinungen zusammengefaßt. Nur
ein verhältnismäßig kleiner Teil stellt sich als Fiktion in der eigent-
lichen Bedeutung des Wortes, als Fiktion im Sinne des von Vai-
hinger aufgestellten Begriffes dar. Ja, das meiste, was Vai-
hinger selbst als ,, juristische Fiktion" behandelt und seiner hoch-
! verdienstlichen Theorie zugrunde gelegt hat, ist gar keine Fiktion,
ist zumindest nicht das Vorstellungsgebildc, auf welches^ jene
charakteristischen Merkmale passen, die er treffend bestimmt hat.
So rückhaltlos den prinzipiellen Ergebnissen der Vaihingerschen
Philosophie des Als Ob zugestimmt werden kann, so muß doch
gerade die von Vaihinger mit besonderer Vorliebe herangezogene
juristische Fiktion als unzutreffendes Argument bezeichnet werden.

Die Fiktion charakterisiert sich nach Vaihinger ebensosehr
durch ihren Zweck wie durch das Mittel, mit dem sie diesen Zweck
erreicht. Der Zweck ist: Erkenntnis der Wirklichkeit, das Mittel:
eine Fälschung, ein Widerspruch, ein Kunstgriff, ein Umweg und
Durchgangspunkt des Denkens. Ein Mittel der Logik, wenn
auch ein abnormales, ist die Fiktion; sie hat erkenntnistheo-
retischen Charakter, als einem Erkenntnismittel kommt ihr Be-
deutung zu.*^)

Dabei ist es die Erkenntnis der Wirklichkeit, der die Fik-
tion dient. ,,Die bewußte Abweichung von der Wirklichkeit soll
die Erreichung der letzteren vorbereiten."**) Und der Wider-
spruch zu der Wirklichkeit ist eines der Hauptmerkmale der
Fiktion.')

Nun muß es schon von vornherein zweifelhaft sein, ob man



') Die Philosophie des Als-ob. 2. Aufl. S. 46.

■') a. a. 0. S. 257.

•^) a. a. 0. S. 447-

*) a. a. 0. S. 250.

") a. a. O. S. i75ff. u- passim.

«) a. a. O. S. 27.

') a. a. 0. S. 171 ff.



632



Hans Kelsen:



Jioffen kann, m einer Wissenschaft Fiktionen anzutreffen, die
ihrem Wesen nach gar nicht auf Erkenntnis der Wirkhchkeit
sjorichtet sind. Wenn die Fiktion ein eigenartiges Mittel ist, die
Reahtät zu erfassen, dann könnte nur eine von ihrem Wege gänz-
hch abgeirrte rechtswissenschafthchc Betrachtung sich einer Fiktion
in diesem Sinne bedienen, und dann kann eine Fiktion rechts-
wissenschafthchc Erkenntnis niemals — auch nicht indirekt,
auf einem Umwege — fördern. Wenn in der Fiktion ein Wirk-
liches behauptet wird (im Widerspruch zur Wirklichkeit aller-
dings), dann kann auf dem Gebiete einer Wissenschaft, deren
Erkenntnisse nicht auf die Wirklichkeit bezogen sind, eine Fik-
tion stets nur eine unzulässige und gänzlich unnütze, bloß schäd-
liche Entgleisung sein.

Und Vai hinger ist sich der wahren Natur der Rechtswissen-
schaft durchaus bewußt! Er betont wiederholt, daß die Juris-
prudenz nicht ein Seiendes zu erkennen habe. ,,Bis jetzt fanden
wir als einzig wirkliche wissenschaftliche Fiktion nur die juri-
dische, allein hier ist doch zu bemerken, daß die Rechtswissenschaft
nicht eine eigentliche Wissenschaft des Seienden ist, sondern eine
Wissenschaft menschlicher, willkürlicher Einrichtungen. "i) Die
Erkenntnis der Rechtswissenschaft geht auf ein Sollen; ihr
Gegenstand ist als ,,menschhche willkürliche Einrichtungen" nicht
richtig charakterisiert, denn auch menschliche willkürliche Ein-
richtungen sind ein Seiendes und können Gegenstand einer Seins-
wissenschaft, z. B. der Soziologie, sein.

Indes erwächst gerade aus dieser Richtung kein ernstlicher
Einwand — nur eine allerdings nicht unwesentliche Modifikation —
für die Vaihingersche Fiktionentheorie. Denn die Rechtswissen-
schaft operiert tatsächlich mit Fiktionen. Welcher Art die sind,
und daß die meisten von Vaihinger als ,, juristische Fiktionen"
angeführten es nicht sind, wird später noch zu zeigen sein. Hier
sei nur bemerkt, daß der Begriff der Vaihingerschen Fiktion
sich dann als zu eng erweist, wenn man die Sinnenwirklich-
keit als den einzigen Gegenstand, das einzige Ziel oder Produkt
der Erkenntnis gelten läßt. Und dies ist wohl nicht gut möglich,
wenn man neben der Naturwissenschaft auch andere Wissen-
schaften, etwa Ethik, vor allem aber Rechtswissenschaft aner-
kennt. Der so erweiterte Fiktionsbegriff ergibt sich, wenn man

'; a. a. 0. S. 257.



Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 633

an Stelle der „Wirklichkeit", als einen speziellen Gegenstand der
Erkenntnis, diesen Erkenntnisgegenstand in seiner Allgemein-
heit treten läßt. Und eine Fiktion liegt vor, wenn die Erkenntnis
— - und im besonderen auch die juristische — bei ihrem Be-
mühen, ihren Gegenstand — und bei der juristischen, der Rechts-
wissenschaft, ist es das Recht, die Rechtsordnung, das recht-
liche Sollen — einen Umweg macht, bei dem sie bewußt in einen
Widerspruch zu diesem ihrem Gegenstand gerät; freilich nur zu
dem Zwecke, um ihn dann um so besser zu packen: So wie ein
Bergsteiger sich manchmal gezwungen sieht, vorübergehend in
einer dem angestrebten Gipfel entgegengesetzten Richtung nach
abwärts zu klettern, um einem Hindernis aus dem Wege zu gehen
und so leichter sein Ziel zu erreichen.

In diesem Sinne gibt es echte, d. h. erkenntnistheoretische
Fiktionen der Rechtswissenschaft, Fiktionen des auf Erkenntnis
des Rechtes, auf geistige Bewältigung der Rechtsordnung ge-
richteten Denkens. Fiktionen der Rechtstheorie. Eine solche
Fiktion, ein Hilfsbegriff, eine Hilfskonstruktion ist z. B. der
Begriff 4es Rechtssubjektes oder der Begriff des subjektiven

Rechtes.

Es kann in diesem Zusammenhange nicht darauf ankommen,
den Rechtsbegriff des Rechtssubjektes oder der Person allseitig
zu untersuchen. Es soll lediglich gezeigt werden, wie fruchtbar
Vai hingers Philosophie des Als Ob auf die Fiktionen der
Rechtstheorie angewendet werden kann.

Die Person — die physische wie die juristische — lebt in der
Vorstellung der Juristen als ein von der Rechtsordnung verschiedenes,
selbständig existentes Wesen, das für gewöhnlich als ,, Träger" von
Pflichten und Rechten bezeichnet wird und dem man bald mehr,
bald weniger auch ein reales Dasein zuspricht. Ob man diese
Realität auf die physische Person beschränkt oder — wie in der
organischen Theorie — auch auf die sogenannten juristischen
Personen ausdehnt, ist hier gleichgültig. Es genügt die Kon-
statierung der ausgesprochenen Tendenz zur Realsetzung der

Person.

Wenn, was hier nicht näher bewiesen werden kann, das Rechts-
subjekt, das physische sowohl wie das juristische, sich als nichts
anderes herausstellt, als die zum Zwecke der Vereinfachung und
Veranschauhchung vorgenommene Personifikation eines Kom-
plexes von Normen, d. h. der Rechtsordnung als Ganzes (die



634



Hans Kelsen :



Staatsperson) oder einzelner Teilrechtsordnungen (die anderen
physischen und juristischen Personen), dann wäre die Vorstellung
der Person, so wie sie der modernen Jurisprudenz geläufig ist,
ein typisches Beispiel jener Fiktionen, deren interessanten und
komplizierten Denkmechanismus Vaihinger durchleuchtet hat,
E^s wäre ein Denkgebilde, bestimmt, den Gegenstand der Rechts-
wissenschaft, die Rechtsordnung, gedanklich zu erfassen, dabei
aber offenbar aus der Phantasie geschaffen und zu dem Er-
kenntnisobjekt hinzugedacht, den Gegenstand sozusagen ver-
doppelnd und so das Erkenntnisbild verfälschend. Damit tritt
aber dieser Denkbehelf zu dem Gegenstand, der spezifischen
Rechtswirklichkeit, in einen Widerspruch und wird, wie dies jede
Analyse des Personenbegriffs zeigen kann, in sich selbst wider-
spruchsvoll. Und wenn die Person, die ursprünglich nur als ein
spezifischer Denkbehelf zur Erfassung der Rechtsordnung dieser
gegenüber wie ein Gerüst aufgebaut wurde, als reales Wesen,
d. h. als eine Art Naturding behauptet wird, dann bedeutet eine
so gesteigerte Fiktion der Person sogar einen Widerspruch zur
Naturwirklichkeit, was nur bei der argen Grenzüberschreitung
einer Rechtstheorie möglich ist, die vermeint, reale Natur tatsachen
zum Gegenstand zu haben.

Der Begriff des Rechtssubjektes ist vor allem zu jenen Fik-
tionen zu rechnen, die Vaihinger als die ,,personifikativen" be-
zeichnet. Sie entstammen dem unserem Vorstellungsapparat von
jeher beherrschenden anthropomorphistischen Personifikationstrieb,
jenem ,, unverwüstlichen Hange des Menschengeschlechtes"^), alles
rein Gedankliche in der Form der Person, des Subjekts, zu hypo-
stasieren und so zu veranschaulichen. „Das gemeinsame Prinzip
ist die Hypostase von Phänomenen in irgendeiner Hinsicht, mag
diese Hypostasierung sich mehr oder w^eniger an das Bild der
Persönlichkeit anschließen. Dies letztere ist auch der eigentlich
bestimmende Faktor in der Kategorie des Dinges."^) ,,Das Ur-
schema der Substanzialität ist ja die Personalität."^) Dies trifft
durchaus auf die Personifikation des Rechtes (d. h. der Rechts-
norm) zu, als welche wir das Rechtssubjekt erkennen müssen.
Es ist die Hypostasierung jenes reinen Gedankendinges, als das
sich die Rechtsnorm, das Gesollt-Sein menschlichen Verhaltens

') a. a. O. S. 391.
*) a. a. O. S. 50.
=") a. a. O. S. 391.



Zur Theoiie der juristischen Fiktionen. 635

darstellt. Und die Erkenntnis, daß der Dingbegriff auch eine
personifikative Fiktion darstellt, läßt das Rechtssubjekt und das
als ,,Ding" gedachte subjektive Recht als durchaus gleichartige,
wenn nicht als identische Hypostasierungen der ,, objektiven"
Rechtsnorm erscheinen. Es kann gar nicht nachdrücklich genug
hervorgehoben werden, daß der Begriff des Rechtssubjektes von
derselben logischen Struktur ist, wie die charakteristischste ?ller
personifikativen Fiktionen, der Begriff der Seele, oder der Begriff
der Kraft ^), deren logische Unhaltbarkeit nichts gegen ihre tat-
sächliche Praktikabilität spricht. Es lohnte sicherlich den Ver-
such, in dem Rechtssubjekt eine Art Rechtsseelc zu begreifen.
Und es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß in den Be-
griffen der sittlichen Persönlichkeit und des ,, Gewissens" durchaus
die gleichen, der Veranschaulichung dienende Personifikationen
der Moralnorm vorliegen. Die Verdoppelung des Erkenntnis -
Objekts, die mit der Fiktion im allgemeinen, insbesondere aber
mit der Personifikation vollzogen wird, charakterisiert Vaihingen
auf das Zutreffendste und man könnte jene eigenartige Dupli-
kation des Rechtes, jene Tautologie, die in dem Begriff der Rechts-
person steckt, kaum besser schildern, als mit den Worten Vai-
hingers, der selbst dabei nicht den Rechtsbegriff der Person,
sondern den Kraftbegriff im Auge hat: ,, Solche Begriffe hat ins-
besondere das 17. Jahrhundert viele geschaffen^) in allen Wissen-
schaften; damals glaubte man, damit wirklich etwas begriffen
zu haben; aber ein solches Wort ist nur eine Schale, welche den
sachlichen Kern zusammenhalten und aufbewahren soll. Und
wie die Schale in allen ihren Formen sich dem Kerne anschmiegt
und ihn einfach verdoppelt äußerlich wiedergibt, so sind auch .
diese Worte oder Begriffe nur Tautologien, welche die eigentliche
Sache in einem äußeren Gewände wiederholen. "5)

Die Widersprüche, die mit dem Begriff des Rechtssubjekts
gesetzt sind, das ein von der Rechtsnorm (dem , .objektiven Recht")
verschiedenes Wesen zu sein behauptet, und dennoch nur dessen
Wiederholung ist, sie werden zwar nicht aufgelöst, aber sie werden
uns begreiflich, wenn wir wissen (nachdem es uns Vaihingen



^) a. a. O. S. 50.

*) Hier muß daran erinnert werden, daß Schloßmann (Persona und TiQoaamov
im Recht und im christlichen Dogma. Kiel, 1906.) auch den Begriff der Rechtsperson
auf die Systematik des 17. Jahrhunderts zurückführt.

3) a. a. O. S. 52.



^2,6



Hans Kelsen:



gesagt hat), daß es das Wesen des Denkweges der Fiktion ist,
sich in Widersprüche zu verwickehi. ,,Das Denken führt ganz
von selbst auf gewisse Scheinbegriffe hin, ebenso wie das Sehen
auf notwendige optische Täuschungen. Wenn wir jenen optischen
Schein als notwendigen erkennen, wenn wir die dadurch gesetzten
F'iktionen mit Bewußtsein akzeptieren und sie gleichzeitig durch-
schauen (z. B. Gott, Freiheit usw.), so können wir die dadurch
entstandenen logischen Widersprüche als notwendige Produkte
unseres Denkens ertragen, indem wir erkennen, daß sie not-
wendige Folgen des inneren Mechanismus des Denkorgans selbst
smd."i)

Darum kann jene an sich widerspruchsvolle Fiktion des Rechts-
subjekts wegen des Vorteils der Veranschaulichung und der
Vereinfachung, den sie mit sich bringt, ohne Schaden für die
Rechtswissenschaft stehen gelassen werden. Allerdings nur insolange
und nur insoweit, als man sich ihres fiktiven Charakters und der
Verdoppelung bewußt bleibt, die mit dem Personenbegriff voll-
zogen wird. Insolange ist auch dasjenige nicht notwendig, was
Vaihinger die Korrektur der Fiktion nennt. ,,Ist ein Wider-
spruch gegen die Wirklichkeit da, so kann die Fiktion eben nur
Wert haben, wenn sie provisorisch gebraucht ist. Darum muß
auch . . . eine Korrektur eintreten."^) ,,Der Fehler muß rück-
gängig gemacht werden, indem das fiktiv eingeführte Gebilde
einfach wieder hinausgeworfen wird."^) Er sagt z\t^ar ausdrück-
lich: ,,Bei den juristischen Fiktionen dagegen scheint eine solche
Korrektur gar nicht nötig zu sein; und sie ist es auch nicht. Denn
hier handelt es sich ja nicht um exakte Berechnung eines Wirk-
lichen, sondern um Subsumtion unter ein willkürliches Gesetz,
ein Menschenwerk, kein Naturgesetz, kein Naturverhältnis."*)
Allein Vaihinger denkt dabei eigentlich nicht an jene Art von
Fiktion, als welche sich der Rechtsbegriff der Person darstellt.
Dieser ist von der Rechtswissenschaft, von der Theorie oder der
Erkenntnis des Rechtes erzeugt. Nicht so die ,, juristischen" Fik-
tionen, deren sich der Gesetzgeber oder der Rechtsanwender be-
dient und die Vaihinger — obgleich es sich hier nicht eigentlich
um der Erkenntnis dienende Vorstellungsgebildc und somit gar

*) a. a. O. S. 223.

*) a. a. O. S. 173-

') a. a. O. S. 297.

•*) a. a. S. S. 107.



Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 637"

nicht um Fiktionen im logischen Sinne handelt — dennoch
vornehmlich im Auge hat. hidcs trifft Vaihingcrs Bemerkung
gerade auf die rechtstheoretische Fiktion des Rechtssubjektes
zu. Nur daß das Wesen der Rechtswissenschaft zum Unterschied
von der Naturwissenschaft bloß negativ richtig charakterisiert ist,
wenn gesagt wird, daß es sich hier nicht um Erfassung der Wirk-
lichkeit handle. Positiv liegt der Rechtswissenschaft die Erfassung
eines Sollens, die Erkenntnis von Normen ob.

Solange also der Begriff der Rechtsperson als das genommen
wird, was er seiner logischen Struktur nach ist: ein Spiegelbild,
kann er mit Nutzen verwendet werden. Allein es zeigt sich, daß
er die mit jeder Personifikation gesetzte Gefahr nicht vermieden
hat: die Hypostasierung zu einem realen Naturding. Indem die
Theorie ein bloßes Spiegelbild als reales Ding auffaßt, steigert
sie den Widerspruch, in dem das Recht als Subjekt (d. i. das
Rechtssubjekt) zum Recht als Objekt (d. i. dem objektiven Recht)
schon an und für sich und ohne Realsetzung steht, zu einem
Widerspruch zur Wirklichkeit. Mit der Rechtsperson wird eine
natürliche Realität behauptet, die es nie und nirgends in der Wirk-
lichkeit gibt. Das gilt in gleicher Weise für die ,, physische" wie
für die sogenannte ,, juristische" Person. Treffend vergleicht Vai-
hinger die fiktiven Denkgebilde mit ,, Knoten und Knotenpunkten",
die sich das Denken selbst aus der ihm dargebotenen Faden knüpft,
,,die dem Denken Hilfsdienste leisten, die aber demselben selbst
zu Fallstricken werden, wenn diese Knoten als etwas genommen
werden, was die Erfahrung selbst objektiv enthält". i) Gerade
diese unzulässige Realsetzung der Person führt aber — wie dies
Vaihinger bei anderen Fiktionen gezeigt hat — zu all den ,, Schein-
problemen", den ,, künstlich geschaffenen Schwierigkeiten", den
, .selbst erzeugten Widersprüchen", deren die Lehre von den ,, juri-
stischen" Personen ebenso voll ist, wie alle philosophischen und
wissenschaftlichen Theorien, die sich um einen fiktiven Begriff
bilden. 2)

Hier muß allerdings eine ,, Korrektur" einsetzen, und diese
kann auf keine andere Art erfolgen, als durch eine Reduktion des



1) a. a. 0. S. 230.

2) ,,Eine Lösung des sogenannten Welträtsels wird es nie geben, weil das
meiste, was uns rätselhaft erscheint, von uns selbst geschaffene Widersprüche sind,
die aus der spielenden Beschäftigung mit den bloßen Formen und Schalen der Er-
kenntnis entstehen." Vaihinger, a. a. 0. S. 52.



638



Hans Kelsen:



Personenbegriffs auf seine natürlichen Grenzen, durch Selbst-
besinnung der Rechtswissenschaft, durch das Klarstellen seiner
lo<»ischen Struktur. Wenn man von dem Rechtsbegriff der Person
niclit mehr verlangt hätte, als er kraft seiner Natur leisten kann,
dann wäre jene gänzlich fruchtlose Diskussion zum größten Teile
erspart worden, die sich über den Begriff der Person, insbesondere
aber über den der ,, juristischen" Person entwickelt hat; dann
wären jene oft geradezu naiven und paradoxen Entgleisungen der
juristischen Theorie, jene nur aus der irreführenden Gewalt der
auch wissenschaftliches Denken verblendenden Fiktion erklärlichen
Ausschreitungen der organischen Theorie, die sich ja geradezu in
einen juristischen Mystizismus versteigen mußte, vermieden worden.

IL

Deutlich zu scheiden von den rechtstheoretischen Fiktionen
sind die sogenannten ,,fictiones juris", sind die Fiktionen der
Rechtspraxis, das ist: des Gesetzgebers und Rechts-
anwenders. Was zunächst die ,, Fiktionen" betrifft, deren sich
der Gesetzgeber bedient, die Fiktionen innerhalb der Rechts-
ordnung, so liegen hier überhaupt keine ,, Fiktionen" im Sinne
Vaihingers vor. Zunächst schon deshalb nicht, weil die norm-
setzende, die gesetzgeberische Tätigkeit kein Denkprozeß, weil
ihr Ziel nicht Erkenntnis ist, sondern weil sie, wenn sie über-
haupt als Prozeß oder Vorgang ins Auge gefaßt wird, eine
Willcnshandlung darstellt. Die Rechtsordnung ist in Worten
ausgedrückt und diese Worte weisen zweifellos häufig jene Sprach-
form auf, hinter der sich die erkenntnistheoretische Fiktion
zu verbergen pflegt: das ,,Als Ob". Allein mangels jedes Er-
kcnntniszwcckcs der Rechtsordnung — die ja als solche Gegen-
stand der Erkenntnis, nicht Erkenntnis oder Ausdruck der Er-
kenntnis ist — können die Worte eines Rechtsgesetzes niemals
eine „Fiktion" im Sinne Vaihingers enthalten.

Es sei gleich dasjenige Beispiel untersucht, das Vaihinger
in dem Kapitel über ,, juristische Fiktionen" heranzieht: der
Artikel 347 des deutschen Handelsgesetzbuches, ,,wo die Be-
stimmung getroffen ist, daß eine nicht rechtzeitig dem Absender
wieder zur Verfügung gestellte Ware zu betrachten sei, als ob
sie vom Empfänger definitiv genehmigt und akzeptiert sei".*)

') a. a. 0. S. 46ff.



Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 639

An einem solchen Beispiel sei so recht die prinzipielle Identität
der analogischen Fiktionen, z. B. der Kategorien, mit dieser juri-
stischen Fiktion zu studieren. Allein in den Kategorien, sowie
in allen echten Fiktionen, will der menschliche Geist die Wirk-
lichkeit oder sonst ein Objekt begreifen. Mit der Fiktion des
Artikel 347 soll weder die Wirklichkeit oder sonst etwas be-
griffen, erkannt, sondern geregelt, soll eine Vorschrift für das
Handeln gegeben, also eigentlich eine Wirklichkeit geschaffen
werden. Nun besteht ja zwischen dem die Welt mit den Kate-
gorien ordnenden und solcher Art — als geordnete Einheit —
erst schaffenden Geist der Erkenntnis und dem die Rechtswelt
regelnden und so erzeugenden Gesetz eine gewisse Verwandt-
schaft. Allein die prinzipielle Differenz zwischen der erkenntnis-
theoretischen und der juristischen Fiktion des Gesetzgebers zeigt
sich sofort in dem Umstand, daß bei der letzteren niemals ein
Widerspruch zur Wirklichkeit, sei es der Natur, sei es der Wirk-
lichkeit des Rechtes (d. i. des Rechtes als Gegenstand der Er-
kenntnis) eintreten kann. Dieser Widerspruch könnte nur in
einem Urteil über das, was ist (und wenn man den hier vorge-
schlagenen erweiterten Fiktionsbegriff akzeptiert: über das, was
sein soll) enthalten sein. Allein das Gesetz kann ein solches Urteil
gar nicht enthalten. In dem Gesetz werden eben keine Erkennt-
nisse geäußert. Die Sätze, in denen sprachlich das Gesetz zum
Ausdruck kommt, sind überhaupt nicht Urteile in diesem eigent-
lichen Sinne. Der Artikel 347 sagt keineswegs, daß die nicht
rechtzeitig retournierte Ware vom Empfänger definitiv genehmigt
und angenommen sei. Er sagt lediglich, daß für den Fall der
nicht rechtzeitigen Retournierung dieselbe Norm gelten solle,
wie für den Fall der Annahme, daß dem Empfänger und dem
Absender dieselben Pflichten auferlegt, dieselben Rechte ein-
geräumt werden, wie im Falle der Annahme. Der Artikel 347
trifft die Bestimmung, daß eine nicht rechtzeitig retournierte
Ware ebenso zu behandeln sei, wie eine angenommene. Die
Sprachform des ,,Als Ob" ist somit gar nicht wesentlich, sie kann
durch das ,, Ebenso Wie" ersetzt werden. Wenn das Gesetz zwei
verschiedene Fälle unter dieselbe Norm stellt, so behauptet es
damit keineswegs, daß beide Fälle gleich — im Sinne von natur-
gleich — seien. Sonst wäre ja jede generelle Norm eine ,, Fik-
tion", da es überhaupt nicht zwei gleiche Menschen, zwei gleiche
Verhältnisse gibt. ,, Rechtlich" sind sie aber effektiv, tatsächlich,



640



Hans Kelsen:


wirklich gleich, weil durch die Rechtsordnung gleich gemacht.
Der Artikel 347 ist, wie jede sogenannte ,, Fiktion" des Gesetz-
gebers, nichts anderes als eine abbrevierende Ausdrucksweise.
Das Gesetz will für einen Fall dasselbe anordnen wie für einen
anderen. Die Formulierung in einer einzigen Norm ist zu um-
ständlich, zu schwerfällig, oder es wurde nicht gleich auch an den
zweiten Fall gedacht. Alle Vorschriften, die für den ersten Fall
schon ausgesprochen wurden, beim zweiten Falle noch einmal
zu wiederholen, ist jedoch überflüssig. Der Gesetzgeber kann
sich mit dem Hinweis begnügen, daß im zweiten Falle dieselben
Vorschriften gelten sollen wie im ersten. Es ist ein Mißverständnis,
zu" glauben, dieser Effekt werde dadurch erzielt, daß der Rechts-
anwender zu der Vorstellung gezwungen wird, beide Fälle seien
gleich, d. h. unterscheiden sich in ihren Tatbeständen nicht. Daß
sie ,, rechtlich" gleich seien, bedeutet nichts anderes, als daß bei
natüdicher Verschiedenheit des Tatbestandes die gleiche
Rechtsfolge eintritt. Und diese Verschiedenheit des Tatbestandes
darf bei der Rechtsanwendung keineswegs ignoriert werden. Der
Richter muß durch Tatsachenforschung feststellen, ob die Ware
angenommen oder ob sie nicht rechtzeitig retourniert wurde.
Wenn der beklagte Empfänger behauptet: Ich habe die Ware
nicht angenommen, muß der Beweis geführt werden, daß sie
nicht rechtzeitig retourniert wurde. Wo ist der Widerspruch zur
Wirklichkeit }

Im Zusammenhang mit einer Unterscheidung zwischen der
fictio juris (Fiktion des Gesetzgebers) und der praesumptio charak-
terisiert Vaihinger die juristische Fiktion folgendermaßen: ,,In
der praesumptio wird eine Voraussetzung so lange gemacht, bis
das Gegenteil bewiesen ist. Dagegen ist die fictio die An-
nahme eines Satzes bzw. einer Tatsache, obwohl das Gegen-
teil sicher ist." Als Beispiel führt er an: ,,Wenn ein Ehegatte,
dessen Ehefrau etwa Ehebruch begeht, doch als Vater des dadurch
erzeugten Kindes angesehen wird, wenn er zu derselben Zeit im
Lande war: Da wird er betrachtet, als ob er der Vater wäre, ob-
gleich er es nicht ist und obgleich man weiß, daß er es nicht ist.
Dieser letztere Zusatz unterscheidet die praesumptio von der
fictio."*) Allein so richtig es ist, zwischen fictio und praesumptio
zu unterscheiden, so unrichtig ist in diesem Gegensatz die fictio

') a. a. O. S. 258.



Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 64 1

charakterisiert. Das Gesetz behauptet nicht, daß der Ehegatte
unter gewissen Voraussetzungen der Vater — d.h. der natür-
liche Vater, Erzeuger des von s^einer Frau im Ehebruch er-
zeugten Kindes ist. Es stellt keinen Satz auf, nimmt keine Tat-
sache an, obwohl das Gegenteil sicher ist. Sondern es ordnet nur
aus bestimmten Gründen und zu bestimmten Zwecken an: Daß
der Ehegatte unter gewissen Umständen einem von seiner Fn.u
im Ehebruch erzeugten Kinde gegenüber, und daß dieses Kind
dem Ehegatten gegenüber dieselben Pfhchten und Rechte habe,
wie sie zwischen dem Ehegatten und seinen von ihm erzeugten
ehelichen Kindern bestehen. Wenn sich das Gesetz des Ausdrucks
bedient: Der Ehegatte gilt unter den bezeichneten Umständen
,,a]s Vater" des im Ehebruch erzeugten Kindes, er ist anzusehen,
,,als ob" er der Vater wäre, so ist dies nichts als eine abkürzende
Formulierung der Rechtsnorm. Ein "Widerspruch zur Wirklich-
keit ist damit in keiner Weise gesetzt. Ja, man kann sogar
— ohne einen solchen Widerspruch zur Wirklichkeit zu begehen ■ —
rechtstheoretisch behaupten: Der Ehegatte ist rechtlich der Vater,
ist der ,, rechtliche" ,, Vater" des im Ehebruch erzeugten Kindes,
wenn man mit ,, Vater" einen spezifischen Rechtsbegriff, nämlich ein
Subjekt bestimmter Pflichten und Rechte, die Personifikation
eines bestimmten Normkomplexes konstituiert. Eine Fiktion
im Sinne eines Widerspruches zur Wirklichkeit vollzöge sich erst
dann, wenn man diesen Rechtsbegriff des ,, Vaters" mit der
Naturtatsache des so benannten männlichen Erzeugers
identifizierte. Eine solche Fiktion ist allerdings nur falsch und
schädlich und gänzlich überflüssig. Es wäre die gleiche Fiktion
wie jene, die oben in der Hypostasierung der Rechtsperson zur
Naturtatsache des Menschen oder des ,, realen" Organismus ge-
kennzeichnet wurde. Und dabei wäre es eine Fiktion der Rechts-
theorie, der auf Erkenntnis des Rechts gerichteten Tätigkeit,
nicht des Gesetzgebers, dessen Tätigkeit auf Erzeugung des
Rechts gerichtet ist.

Zu den großen Verdiensten der Vaihingerschen Unter-
suchungen gehört die Erkenntnis von der innigen Verwandt-
schaft der mathematischen Methode mit der Begriffstechnik der
Rechtswissenschaft. 1) Allein gerade die völlige Gleichsetzung der
gesetzgeberischen Fiktion mit den Fiktionen der Mathematik



1) a. a. O. S. 80, 251, 6gi{., 187.
Annalen der Philosophie. I. 4^



(5_^2 Hans Kelsen:

muß als verfehlt bezeichnet werden. ,,Die Ähnlichkeit der Methode
beider Wissenschaften beschränkt sich nicht nur auf die Grund-
begriffe, welche in beiden Gebieten rein fiktiver Natur sind, sondern
zeigt sich auch in dem ganzen methodischen Verfahren. Was
zuerst das letztere betrifft, so handelt es sich oft in beiden Ge-
bieten darum, einen einzelnen Fall unter ein Allgemeines zu sub-
sumieren, dessen Bestimmungen nur auf jenes Einzelne angewendet
werden sollen. Nun aber widerstrebt das Einzelne dieser Sub-
sumtion. Denn das Allgemeine ist nicht so umfassend, um dieses
Einzelne unter sich zu begreifen. In der Mathematik handelt es
sich z. B. darum, die krummen Linien unter die geraden zu sub-
sumieren; das hat ja den enormen Vorteil, dann mit denselben
rechnen zu können. In der Jurisprudenz handelt es sich darum,
einen einzelnen Fall unter ein Gesetz zu bringen, um dessen Wohl-
taten und Straf bestimmungen auf jenen Fall anzuwenden. In
beiden Fällen wird nun dies in Wirklichkeit nicht her-
zustellende Verhältnis als hergestellt betrachtet: So wird
z. B. die krumme Linie als gerade betrachtet, so wird der Adoptiv-
sohn als der wirkliche Sohn betrachtet. Eine krumme Linie ist
niemals gerade, ein Adoptivsohn ist niemals ein wirklicher Sohn;
oder um ein anderes Beispiel zu wählen: Der Kreis soll als eine
Ellipse gedacht werden; in der Rechtswissenschaft wird der nicht
erschienene Beklagte betrachtet, als ob er die Klage zugestanden
habe, wird der eingesetzte Erbe im Falle der Unwürdigkeit be-
trachtet, als ob er vor dem Erblasser gestorben sei."^) Allein
Vaihinger scheint den prinzipiellen Unterschied zu übersehen,
der hier zwischen den Gedankengängen der Mathematik und den
Formulierungen des Gesetzgebers besteht: Gewiß, in beiden Fällen
soll ein Fall unter ein Allgemeines ■ — hier eine Norm, dort ein
Begriff — subsumiert werden, das nicht allgemein, nicht weit
genug ist, um das Einzelne zu begreifen. Was aber macht der
Gesetzgeber.? Er erweitert einfach die Norm, er dehnt sie
— ohne jede Fiktion, ohne jeden Widerspruch zur Wirklichkeit —
auf den neuen Fall aus. Der neue Fall verhält sich zur erweiterten
Norm nicht anders, als jeder Fall zu der ihn regelnden Norm.
Das gewünschte Verhältnis ist hergestellt, es ist — für das Gebiet
des Rechtes — nicht ein ,,in Wirklichkeit nicht herzustellendes",
es ist in der ,, Wirklichkeit" des Gesetzes hergestellt. Die Mathe-

^) a. a. o. S. 70.



Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 643

matik behauptet, im Widerspruch zu ihrer Wirkhchkeit, allerdings :
Der Kreis ist eine Ellipse, die iNJumme ist gerad. Allein das
Gesetz behauptet nicht — es behauptet ja überhaupt nichts • —
der Adoptivsohn ist ein wirklicher Sohn, der nicht erschienene
Beklagte hat die Klage zugestanden, der unwürdige Erbe ist vor
dem Erblasser gestorben. Sondern es , .behauptet", d. h. es be-
stimmt — und diese Bestimmung steht zu nichts in einem Wider-
spruch — , daß für den Adoptivsohn dieselben Normen gelten
sollen wie für den wirklichen — so wie es bestimmt, daß gewisse
Normen für Männer und Frauen ohne Rücksicht auf den Geschlechts -
unterschied gelten sollen — und es bestimmt, daß das Nicht-
erscheinen des Beklagten dieselben Rechtsfolgen haben soll, wie
das Zugeständnis der KJage usw.

Ebenso liegt keine eigentliche Fiktion in dem von Vai hinger
allerdings als Beispiel für eine solche herangezogenen Grundsatz
des englichsen Rechts: The king can do no wrong.^) Der König
kann ,, wirklich" kein Unrecht tun, wenn die Rechtsnorm ihre
Geltung ihm gegenüber zurückzieht. ,, Unrecht" ist ja keine
Naturtatsache. Ein Tatbestand ist ,, Unrecht" nur durch sein
Verhältnis zur Rechtsordnung, dadurch, daß er als Inhalt einer
verbietenden Rechtsnorm bzw. als Bedingung in eine Strafe oder
Exekution anordnende Rechtsnorm aufgenommen ist. W^enn die
Rechtsordnung Handlungen oder Unterlassungen des Königs nicht
verbietet, bzw. nicht zu Bedingungen füt Strafe und Exekution
macht, gibt es kein Unrecht des Königs. Der dem englischen
Rechtsgrundsatz analoge Rechtssatz der österreichischen und
deutschen Verfassung: Der Monarch ist unverantwortlich, schafft
eben jene Rechtswirklichkeit, zu der allein der die juristische
Fiktion begründende Widerspruch einsetzen könne. Der Irrtum,
daß Unrecht eine Naturtatsache sei, daß ein Mord Unrecht sei,
auch wenn er nicht vom Recht verboten bzw. mit Strafe be-
droht ist, erzeugt die Meinung, daß die erwähnten, die Geltung
der Rechtsordnung nach bestimmter Richtung einschränkenden
Rechtssätze Fiktionen seien, weil sie in einen Widerspruch zur
Wirklichkeit geraten könnten.

Vaihinger scheint ja die Differenz, die zwischen der ,, Fik-
tion" des Gesetzgebers und der mathematischen Fiktion besteht,
empfunden zu haben. Er hat sich diesen Unterschied dadurch



1) a. a. 0. S. 697.



41



*



C^i4 Hans Kelsen:

verdunkelt, daß er zwar der mathematischen Erkenntnis richtig
die Rechtswissenschaft gegenüber gestellt hat, dar.n iber doch
ein Gebilde des Gesetzgebers, nicht der Rechtswissenschaft, be-
handelt. Er sagt: ,,Die Rechtswissenschaft hat es bei ihren Fik-
tionen indessen viel leichter als die Mathematik: Dort sind Fällr.
denen willkürliche Gesetzesbestimmungen gegenüberstehen; da ist
also eine Übertragung leicht möglich. Man denkt sich die Sache
eben einfach so, als ob sie so wäre." Allein hier handelt es sich
gar nicht um eine ,, Übertragung", der Gesetzgeber — und mit
ihm der Rechtsanwender — ■ ,, denkt" sich nicht die Sache so,
als ob sie irgendwie wäre, sondern er regelt sie so, wie er es
wünscht. Dadurch wird die ,, Sache" wirklich, d. h. rechtswirklich,
so. Der Gesetzgeber ist — in seinem Reiche — allmächtig, weil
seine Funktion in nichts anderem besteht, als Rechtsfolgen an
Tatbestände anzuknüpfen. Eine Fiktion des Gesetzes wäre etwa
eberxÄO unmöglich, wie eine Fiktion der Natur. Das Gesetz könnte
ja nur zu sich selbst — d. h. zu seiner eigenen Wirklichkeit —
in Widerspruch geraten. Das aber ist sinnlos.

Der mit der Fiktion gesetzte Widerspruch kann bei den Fik-
tionen der Rechtswissenschaft (die von den als ,, Fiktionen" be-
zeichneten Abbreviaturen der Gesetzessprache zu unterscheiden
sind) zunächst nur gegenüber der Rechtsordnung, dem Rechte
als dem Gegenstande und somit der ,, Wirklichkeit" der Rechts-
wissenschaft, in die Erscheinung treten. Das von der Rechtswissen-
schaft konstituierte Gebilde, ihr Hilfsbegriff, muß, in ein Urteil
aufgelöst, eine Behauptung enthalten, die der Rechtsordnung
widerspricht, aus der Rechtsordnung sich nicht ableiten läßt.
Ein solcher Fall wurde ja oben an dem Begriffe der Person exem-
plifiziert. Ein Widerspruch zur Rechtsordnung ist natürlich bei
den Fiktionen des Gesetzgebers ausgeschlossen oder nur ein für
oberflächliche, an den Worten haftende Betrachtung entstehender
Schein.

Daß Vaihinger bei seinen juristischen Fiktionen auch an
diesen Widerspruch zur Rechtsordnung gedacht hat, das beweist
sein Beispiel der prätorischen Fiktionen des römischen Rechtes.
Er zitiert die Realcnzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft
vonPauly, III, S. 473: ,,Fictio nannten die Römer eine durch das
prätorianische Recht geschaffene Erleichterung einer Rechts-
umgehung, welche darin besteht, daß etwas, was das strenge
Rcclit fordert, unter gewissen Umständen als geschehen oder vor-



Zur Theorie der juristischen P'iktionen. 645

handen angenommen werden soll, wenn es auch nicht geschehen
oder vorhanden ist. „Dadurch treten gewisse rechtliche Wirkungen
ein, auch wenn die vorausgesetzten Verhältnisse nicht so statt-
finden, wie es das Gesetz vorschreibt." Und Vaihinger bemerkt
hierzu: ,, Diese Erklärung paßt mutatis mutandis vollständig
auf die wissenschaftliche Fiktion im engeren Sinne; auch
hier findet eine Erleichterung und Umgehung der Schwierigkeit
statt, welche aber auch hier wie dort Folge der verwickehen Ver-
hältnisse ist : Auch hier wird eine Forderung des strengen Rechtes
der Logik umgangen und auch hier treten Konsequenzen, prak-
tische Folgerungen ein, welche stimmen, obwohl das Voraus-
gesetzte selbst falsch ist." Allein weder ist die Paulysche
Charakterisierung der ,,fictio", noch sind die daraus gezogenen
Schlüsse Vaihingers ganz richtig. Diese letzteren stehen und
fallen mit der Tatsache, daß die prätorianische Fiktion eine ,, Rechts-
umgehung" ist, daß sie einen Widerspruch zu demjenigen setzt,
was das Gesetz vorschreibt. Dies ist jedoch deshalb nicht der
Fall, weil der Prätor selbst gesetzgebendes Organ ist, weil er
— und zwar verfassungsgemäß — das Recht nicht bloß an-
wendet, sondern auch selbst Rechtsnormen statuiert. Wenn der
Prätor einem peregrinus gestattet, eine Klage, die nach dem jus
strictum nur ein civis erheben kann, so anzustellen, als ob er
ein civis wäre, so bedeutet das nichts anderes, als : die Statuierung
eines Rechtssatzes, in dem gewisse Rechte und Pflichten des
civis auf den peregrinus ausgedehnt werden, so kann diese Rechts-
norm ohne jedes ,,Als Ob" und ohne jede Fiktion formuliert
werden: Der peregrinus darf dieselbe Klage anstellen, wie der
civis. Die ,, Konsequenzen und praktischen Forderungen", die
hier eintreten, ,, stimmen" nicht, obwohl das Vorausgesetzte
selbst falsch ist, sondern weil auch das Vorausgesetzte ,, richtig",
d. h. rechtmäßig, dem neuen, vom Prätor geschaffenen Rechts-
satz gemäß ist. Der Irrtum, der hier unterläuft, besteht darin,
daß das strikte jus civile als der einzige Bestandteil der Rechts-
ordnung vorausgesetzt wird, als ob nicht auch das prätorische
Recht — als vollwertiges objektives Recht — dazu gehörte. Die
Klagerhebung durch den peregrinus kann der Rechtsordnung
nicht widersprechen, denn sie beruht auf einem Satze derselben!
Allerdings unterläuft dabei dennoch eine Fiktion: Die nämlich,
daß der Prätor nicht Recht setzt, sondern Recht anwendet.
Als bloßer Anwender des jus civile müßte der Prätor, der einem



646



Hans Kelsen:



percgrinus eine Klage gewährt, die nur dem civis zusteht, einen
Widerspruch zu dem die Rechtsordnung allein darstellenden jus
civile setzen. Und dieser in der Rechtsanwendung vollzogene
Widerspruch zur Rechtsordnung müßte sich in einer Fiktion ver-
stecken. Diese Fiktion besteht jedoch nicht in der Behauptung:
Der peregrinus sei ein civis, sondern in der Behauptung: Die Rechts-
ordnung gewähre auch dem peregrinus eine Klage. Der Prätor
leugnet keineswegs den Unterschied zwischen civis und peregrinus
überhaupt. Er leugnet ihn nur — sofern er sich als Rechtsanwender
darstellt — nach der speziellen Richtung der Klageberechtigung.
D. h. er behauptet: auch der peregrinus ist klageberechtigt. Allein
diese Fiktion wird in demselben Augenblicke überflüssig, ja un-
möglich, wo jene andere Fiktion wegfällt, die den Prätor als bloßen
Rechtsanwender — und nicht als delegierten Gesetzgeber ■ — gelten
läßt.

111.

Schon aus dem eben Gesagten ergibt sich, daß in bezug auf
die Möglichkeit einer Fiktion ■ — die von der Möglichkeit eines
Widerspruches zu der Rechtsordnung abhängt — die Rechts-
anwendung sich von der Rechtssetzung unterscheidet. Der Rechts-
anwender befindet sich den Rechtsnormen gegenüber tatsächlich
in einer ganz ähnlichen Situation, wie das mathematische Denken
gegenüber den Begriffen des Kreises, der Ellipse, der Krummen,
der Geraden usw. Der Richter, der Geschäftsmann, kann die
Normen nicht willkürlich ausdehnen oder einschränken, mit anderen
Worten: er kann nicht an beliebige Tatbestände beliebige Rechts-
folgen knüpfen. Wünscht er also einen Tatbestand unter eine
Rechtsnorm zu subsumieren, die diesen Fall nicht umfaßt, dann
ist allerdings die Fiktion nahegelegt : Den Fall so zu betrachten,
als ob er unter die Rechtsnorm fiele. Bedroht das Gesetz die
Beschädigung des Staatstelegraphen mit Strafe, läßt es aber die
'gleiche Beschädigung des Staatstelephons unbestraft, oder setzt
es auf dieses Delikt eine — nach Ansicht des Rechtsanwenders —
zu milde Strafe, dann bedeutet es eine Fiktion, wenn der Richter
über den Telephonbeschädiger Strafe verhängt, die das Gesetz
dem Telegraphenzerstörer zugedacht hat, indem er die den Tele-
graphen schützende Norm zum Schutze des Telephons verwendet;
nicht als ob Telegraph und Telephon dasselbe wäre, das behauptet
ja der Richter nicht und will es nicht behaupten, sondern als ob


Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 647

(las Gesetz den jTelephünbcschädiger mit derselben Straft- be-
drohte wie den Tclegraphenbeschädiger. Die juristische Fiktion
kann nur eine fiktive Rechtsbehauptung, nicht eine fiktive
Tatsachenbehauptung sein. Daß ein Telephon und nicht ein
Telegraph beschädigt wurde, muß der Richter ausdrücklich fest-
stellen und darf es nicht ignorieren. Seine im Widerspruch zur
Rechtsordnung, nicht zur Naturwirklichkeit oder Pliysik stehende
Behauptung lautet: Auch das Staatstelephon darf nicht be-
schädigt werden. Diese Behauptung einer — nicht geltenden —
generellen Norm ist das Mittel, um zu dem konkreten, von ihm
gewünschten Urteil zu gelangen. Nicht aber die Behauptung:
Das Telephon ist ein Telegraph.

Daß die Rechts anwen düng Fiktionen aufweisen kann, hängt
damit zusammen, daß sie die Rechtserkenntnis voraussetzt oder
richtiger, daß in dem zusammengesetzten Akt der Rechtsanwendung
auch ein Stück Rechtserkenntnis steckt. Indes muß fraglich
bleiben, ob diese Fiktionen der Reehtsanwendung — sie sind
identisch mit den Fällen der Interpretation durch Analogie —
auch darin den erkenntnistheoretischen Fiktionen gleichen, daß
sie wie diese — wenn auch durch eine bewußt falsche Vorstellung —
zu einem richtigen Ergebnis gelangen. Denn die ,, Richtigkeit"
der Rechtsanwendung kann offenbar nur ihre Rechtmäßigkeit,
nicht aber ihre Nützlichkeit sein. Es ist ein mathematisch
richtiges Resultat, zu dem die Fiktion fülirt, daß die Krumme
nur eine Gerade sei. Es müßte ein rechtlich richtiges, also
ein rechtmäßiges Ergebnis sein, das im Wege einer analo-
gisch-fiktiven Interpretation gewonnen wird. Allein die Recht-
mäßigkeit dieses Ergebnisses kann nur an der Rechtsordnung
gemessen werden, der Widerspruch zur Rechtsordnung ist aber
bei der fiktiv-analogischen Rechtsanwendung nicht ein bloß pro-
visorischer, korrigierbarer, sondern ein definitiver, der im weiteren
Verlaufe nicht korrigiert werden kann. Nun betont Vaihinger
als ein Hauptmerkmal der Fiktion, ,,daß diese (fiktiven) Begriffe
sei es historisch wegfallen, sei es logisch wieder ausfallen". ,,Ist
ein Widerspruch gegen die Wirklichkeit da, so kann die Fiktion
eben nur Wert haben, wenn sie provisorisch gebraucht ist . . ."
Und speziell von den Semif iktionen : ,, Darum muß auch . . . eine
Korrektur eintreten; denn ohne eine solche wären sie ja nicht
anwendbar auf die Wirklichkeit."^) Von den juristischen Fik-

1) a. a. O. S. 172/73. '



548 Hans Kelsen:

lionen behauptet er jedoch, wie bereits früher bemerkt, daß eine
solclie Korrektur nicht nötig sei. Denn hier handele es sich ja
nicht um exakte Berechnung der WirkHchkeiten, sondern um
Subsumtion unter ein willkürHches Gesetz, ein Menschenwerk,
kein Naturgesetz, kein Naturverhältnis. ^) Allein damit ist die
Cberflüssigkeit einer Korrektur bei der juristischen Fiktion der
Rechtsanwendung nicht erwiesen! Denn es handelt sich wohl
bei der geistigen Tätigkeit, die sich juristischer F'iktioncn (Fik-
tionen des Gesetzgebers und der Rechtsanw^endung) bedient, nicht
um Berechnung der Wirklichkeit. Das könnte aber nur die
Konsequenz haben, daß zu einem Widerspruch zur Wirklichkeit,
und damit zu einer erkenntnistheoretischen Fiktion im Sinne
Vaihingers überhaupt kein Anlaß ist. Soweit erkenntnistheo-
retische Fiktionen als ,, juristische" Fiktionen möglich sind, können
es nur Fiktionen der Rechtserkenntnis sein. Und bei diesen richtet
sich der das Wesen der Fiktion konstituierende Widerspruch gegen
die Rechtsordnung, die die ,, Wirklichkeit", der Erkenntnisgegen-
stand der Rechtswissenschaft ist. Dieser Widerspruch aber
bedarf, wie oben ausgeführt, aus denselben Gründen einer Kor-
rektur, wie der ihm analoge Widerspruch bei den physikalischen,
mathematischen und sonstigen naturwissenschaftlichen (im weite-
sten Sinne), denn ohne eine solche Korrektur wäre die juristische
Fiktion ebensowenig auf die Rechtsordnung, d. i. die Wirklich-
keit der juristischen Erkenntnis, wie die anderen Fiktionen auf
die Wirklichkeit der Natur anwendbar. Die Fiktion der Rechts-
anwendung aber — d. i. die analogische Interpretation — setzt
einen unaufhebbaren Widerspruch zur Rechtsordnung. Sie ist
kein Umweg, der schließlich doch zur ,, Wirklichkeit" des Rechtes,
sondern ein Abweg, der vielleicht zu demjenigen führt, was der
Fingierende für nützlich und zweckmäßig hält, niemals aber zum
Gegenstand der Rechtswissenschaft: dem Recht. Aus diesem
Grunde muß eine Rechtfertigung dieser Art von juristischer
Fiktion, der Fiktion der Rechtsanwendung, theoretisch für un-
möglich erklärt werden. Dies ist mit besonderem Nachdruck
angesichts der Tatsache zu betonen, daß Vaihinger gerade diese
juristische Fiktion als eine gleichartige und gleichberechtigte
Erscheinung in sein System und seine Theorie der Fiktionen ein-
bezogen hat, die ja im großen und ganzen eine Apologie der Fik-
tionen sein will.
') a. a. o. s. 107.



Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 640

Allerdings muß darauf Bedacht genommen werden, daß eine
derartig unzulässige Fiktion tatsächlich nur dann vorliegt, wenn
ein unleugbarer und unbehebbarer Widerspruch zur Rechtsordnung
gesetzt würde. Dies ist in allen jenen Fällen der analogischen
Rechtsanwendung nicht der Fall, wo die Rechtsordnung die
Analogie unter gewissen Bedingungen zuläßt, ja anordnet. Ob
dies in einem Gesetzesrechtssatz ausdrücklich normiert ist, wie
etwa im § 7 des österreichischen bürgerlichen Gesetzbuches, oder
ob man sich dabei nur auf eine Gewohnheitsrechtsnorm oder
— im Falle man nicht auf positivistischer Basis steht — auf
einen natürlichen Rechtsgrundsatz beruft, ist gleichgültig, denn
ein Widerspruch zur Rechtsordnung — und damit eine Fiktion
ist ausgeschlossen, sobald die Rechtsordnung selbst die An-
wendung der Analogie und sohin die mit Hilfe der Analogie
getroffene Entscheidung anordnet. Man vergesse auch nicht,
daß jeder Jurist, der die Analogie für zulässig erklärt, nie und
nimmer darauf verzichten wird, die mittels analogischer Inter-
pretation gewonnene Entscheidung als Recht gelten zu lassen.
Das heißt aber: Der Satz, der die Analogie fordert, muß als
Rechtssatz behauptet werden. Der Nachweis eines solchen
Rechtssatzes ist natürlich eine andere Frage. Rechts theoretisch
ist somit eine Fiktion des Gesetzgebers unmöglich, eine Fiktion
des Rechtsan Wenders gänzHch unzulässig, weil rechtszweck-
widrig.

IV.

Zum Nachweis, daß Fiktionen der Rechtsanwendung gar
nicht in das Vaihingersche System der Fiktionen hineingehören,
sei schließlich festgestellt, daß die Rechtserkenntnis — die allein
zu einer echten Fiktion führen kann — bei der Rechtsanwendung
eine untergeordnete Rolle spielt. Sie ist nicht das Wesen, der
eigentliche Sinn und Zweck dieser Tätigkeit, sondern nur ihr
Mittel. Der Rechtsanwendung kommt es fast ebenso wie der
Rechtssetzung nicht eigentlich auf die Erkenntnis des Rechts,
sondern auf dessen Verwirklichung, auf Willenshandlungen,
an. Die Rechtserkenntnis, die Theorie des Rechts, bereitet
die Praxis des Rechtes nur vor, schafft ihr das Handwerkszeug.

Nun hat Vaihinger wohl selbst zwischen Rechts theorie
und Rechtspraxis unterschieden.*) Allein er hat den prinzipiellen

1) Vgl. a. a. 0. S. 257.



650



Hans Kelsen:



Unterschied übersehen, der zwischen den echten erkenntnistheo-
retischen Fiktionen der Rechtswissenschaft und den JPseudo-
fiktionen der Rechtspraxis besteht. Vor allem aber hat Vai-
hinger fast ausschließlich die sogenannten „Fiktionen" der Rechts-
praxis behandelt. Doch finden sich immerhin bei ihm auch rechts -
theoretische Fiktionen. Leider meist nur mit einem Schlagvsort
angedeutet und ohne Analyse dieser Gebilde. So die Fiktion der
juristischen Person im allgemeinen und der Staatsperson im be^
sonderen.^) Keine rechtstheoretischen, sondern ethische Fiktionen
sind die Fiktionen der ,, Freiheit" und die des ,, Staatsvertrages",
die Vaihinger zur Begründung des staatlichen Straf rechtes für
notwendig hält. Das ,, Recht" des Staates, zu strafen, bedarf einer
moralischen, keiner juristischen Rechtfertigung; und die Freiheit
des Willens als Grund dieses Rechtes ist keine notwendige
ethische Fiktion. Denn die auch von Vaihinger angeführte General -
Prävention ist eine Begründung der Strafe, die ohne jede Freiheits-
fiktion zu Recht besteht. Die ,, Fiktion" der Freiheit entsteht
sicherlich nur durch die irrige Anwendung der normativen Kate-
gorie auf die — kausal determinierte — Naturwirklichkeit, durch
einen unzulässigen und für den Bereich juristischer Erkenntnis
zumindest überflüssigen Synkretismus von Sein und Sollen. Der
Mensch handelt oder wird in bestimmter Weise handeln (Seins-
betrachtung), nur wenn er so handeln kann, bzw. muß. Das
Urteil, das ein Handeln als (zukünftig) seiend behauptet, ob-
gleich dieses Handeln als unmöglich erkannt ist, setzt einen Wider-
spruch zu eben jenem Objekt, das mit diesem Urteil erfaßt werden
soll: zur Wirklichkeit; ist somit unzulässig und wertlos. Das
Urteil: der Mensch soll in bestimmter Weise handeln, setzt auch
dann keinen Widerspruch — weder zur Wirklichkeit, noch zu
sonst einem Erkenntnisobjekt — wenn die gesollte Handlung
als seiende unmöglich erscheint. Nur wenn man den Unterschied
von Sein und Sollen (als zweier verschiedener Erkenntnisformen)
ignoriert und die Seinsmöglichkeit für eine Bedingung der
Sollurteile hält, entsteht der Schein, als ob z\s'ischen dem Satze,
der einen Inhalt als gesollt setzt, und dem Satze, der die Un-
möglichkeit dieses Inhalts in der Seinsform behauptet, ein Wider-
spruch besteht; entsteht der Irrtum: Der Inhalt (die gesollte
Handlung) müsse als sei ns -möglich, der handelnde Mensch somit

') a. a. O. S. 259.



Zur Theorie der juristischen Fiktionen. ' 65 1

als frei fingiert werden, damit das Sollurteil und mit ihm die
Pflicht zu handeln und eventuell anders zu handeln, als man
wirklich handelt, handeln muß und kann, möglich sei. Ein metho-
discher Fehler führt zu der Fiktion der Freiheit, die mit Erkenntnis
dieses Fehlers überflüssig wird. Nur so ist es zu erklären, daß
der Widerspruch zwischen der Freiheit der Ethik. und Jurisprudenz
und der Unfreiheit der Naturwissenschaft überhaupt möglich wurde
und von beiden Seiten ignoriert werden konnte. Die ethische
Fiktion der Freiheit ist somit nur insolange nützlich und notwendig,
als es an der nötigen methodischen Einsicht fehlt. Und insofern
paßt auf sie Vaihingers zweites Hauptmerkmal der Fiktion:
.,Ist ein Widerspruch gegen die Wirklichkeit da, so kann die
Fiktion eben nur Wert haben, wenn sie provisorisch gebraucht
wird. Bis die Erfahrungen bereichert sind, oder bis die Denk-
methoden so geschärft sind, daß jene provisorischen Methoden
durch definitive ersetzt werden können."^)

Die Fiktion des Staatsvertrages charakterisiert Vaihingcr
nicht ganz richtig, wenn er behauptet: ,,Der Staat will sein fak-
tisch ausgeübtes Strafrecht nicht auf die Macht gründen, auch
nicht bloß utilitaristisch, sondern als wirkliches Recht nachweisen :
Das ist aber nur möglich durch Fiktion eines Vertrages: Denn
andere Rechte als aus Verträgen hervorgegangene kennt der Jurist
nicht." Die Fiktion des Staatsvertrages dient wie die der Freiheit
nicht eigentlich zur juristischen Rechtfertigung der staatlichen
Straf- und Zwangsfunktion. Eine solche bedeutete ja nur: Be-
gründung auf einen Rechtssatz. Es gilt vielmehr, den Rechtssatz,
das heißt ja nichts anderes als die zwangsanordnende Norm selbst
zu begründen. Diese Begründung erfolgt durch eine höhere außer-
rechtliche Norm: Das moralische oder ,, natürliche" Grundprinzip:
Pacta sunt servanda. Darum muß ein Vertrag fingiert werden,
nicht aber, weil der Jurist angeblich keine anderen Rechte kennt,
als solche, die aus Verträgen hervorgegangen sind. Das ist überdies
ein tatsächlicher Irrtum. Der Vertrag ist nur einer der vielen
Tatbestände, an die die Rechtsordnung Rechte und Pflichten knüpft.

Der Staatsvertrag ist somit eigentlich keine rechtstheoretische,
sondern eine ethische Fiktion, die Fiktion einer moralischen Welt-
anschauung. Eine rechtstheoretische Betrachtung muß gerade diese
Fiktion — mit der Vorstellung einer sittlichen Begründung des
Rechts — fallen lassen.

1) a. a. 0. S. 17.



652



Hans Kelseii :



Eine Rechtswissenschaft — als Erkenntnis eines besonderen
Objektes — ist nämlich überhaupt nur möglich, wenn man von
der Anschauung einer Souveränität des Rechtes (oder, was das-
selbe ist, des Staates) ausgeht, d h. wenn man die Rechtsordnung
als ein selbständiges und daher von keiner höheren Ordnung ab-
geleitetes Normensystem erkennt. Andernfalls kann es nur eine
Moralwissenschaft (Ethik) oder Theologie geben, je nachdem man
das Recht als Ausfluß der Moral oder der Religion gelten läßt.
(Von einer Naturwissenschaft oder Soziologie des Rechtes, die
natürlich auch keine Rechtswissenschaft wäre, braucht hier nicht
die Rede zu sein, solange das Recht als Ordnung, als Normen -
komplex aufgefaßt wird.) Nun erblickt Vaihinger gerade in
dieser Isolierung des Rechtes von der Moral eine Fiktion. Die
,, fiktive Isolierung", die bei der positivistischen (d. h. das Recht
als selbständige, souveräne Ordnung voraussetzenden) Betrachtung
unterlaufe, sei ,,das vorläufige Abgehen von einem integrierenden
Teile der Wirklichkeit". i) Für den Gesetzgeber und Juristen
sei die Trennung von Recht und Moral als von zwei auseinander-
fallenden Kreisen von hohem Werte, nur dürfe dabei nicht ver-
gessen werden, daß hier wiederum das ,,daß" durch ein ,,Als Ob"
zu ersetzen sei. ,,Denn man mag das Verhältnis jener beiden
wichtigen Lebensgebiete näher formulieren, wie man will, so kann
sich dabei nimmermehr die Meinung geltend machen, daß beides
faktisch nichts miteinander zu schaffen habe. Es :st diese Be-
merkung darum von W'ichtigkeit, weil aus Mangel an methodo-
logischer Einsicht der Fall nicht selten ist, daß Juristen jene
Fiktion für das wirkliche Verhältnis halten, ein verhängnisvoller
und schwerer Irrtum. Die einseitige Betrachtungsweise kann der
Jurisprudenz und selbst dem praktischen Rechtsleben gute Dienste
leisten, aber es wird sich immer bald der Punkt geltend machen,
wo an Stelle der vorläufig gemachten einseitigen Abstraktion
wieder die volle Wirklichkeit in ihre Rechte eingesetzt zu werden
vermag." 2) Allein dieser Auffassung kann — gerade vom Stand-
punkte der Vaihingcrschen Fiktionentheorie — nicht beigepflichtet
werden. Denn in der Behauptung, das Recht sei ein von der Moral
unabhängiges — in seiner Sollgeltung nicht auf die sittliche Ordnung



') a. a. O. S. 375-
2) a. a. O. S. 375.


Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 65 >

rückführbares Normensystem, kann schon darum auch kein „vor-
läufiges" Abgehen von einem integrierenden Teik» der Wirklichkeit
liegen, weil weder das Recht noch die Moral — beide als Normen-
komplexe gedacht — in der Welt jener Wirklichkeit stehen, die
Vaihinger als die Linie gilt, von der die Fiktion abweicht, und
die mit der Natur, der Sinnenwelt, identisch ist; und weil weder
Rechtswissenschaft noch Ethik in ihren Objekten jene Wirklichkeit
zu fassen suchen. Das Verhältnis zwischen Recht und Moral ist
überhaupt nicht ein Verhältnis zwischen zwei ,,LebensgebJeten",
als zwischen zwei Stücken der natürlichen Realität. Das ,, wirk-
liche" Verhältnis zwischen ihnen ist kein Verhältnis in der Wirk-
lichkeit, d. h. der von der Naturwissenschaft im weitesten — auch
eine Gesellschaftslehre umfassenden — Sinne ergreifbaren Realität.
Die juristische Betrachtung, der Vaihinger eine fiktive Isolierung
ziunutet, kann bei Feststellung des Verhältnisses ihres Objektes
zu der Moral gar nicht von einem integrierenden Teile der Wirk-
lichkeit abgehen, da sie die Wirklichkeit nicht im Auge hat. So-
fern aber Recht und Moral als — soziale — Realitäten, als ,, wirk-
liche" Vorgänge in der Natur angesehen werden (ob dies über-
haupt möglich sei, bleibe hier dahingestellt), sind sie nicht Gegen-
stand der spezifisch juristischen Erkenntnis bzw. der normativen
Ethik. Und insofern kann auch jene fiktive Isolierung gar niclit
vollzogen werden. Es ist für sie gar kein Anlaß gegeben. Für
eine auf die Wirklichkeit des sogenannten Rechtserlebnisses, die
faktischen Moralvorstellungen und durch sie bewirkten ,, mora-
lischen" Handlungen gerichtete Betrachtung — ihre methodische
Möglichkeit überhaupt zugegeben — ist Recht und Moral etwas
völhg anderes als das gleiche Wort besagt, das den Gegenstand
der normativen Rechtswissenschaft und Ethik bezeichnet. Und
für diese auf die wirklichen Seelenvorgänge und Handlungen ge-
richtete Erkenntnis dürfte sich überhaupt keine wesentliche Dif-
ferenz zwischen einer als ,, Recht" und einer als ,, Moral" be-
zeichneten Wirklichkeit, sicherlich nicht aber die Zweckmäßig-
keit einer wenn auch nur provisorisch fiktiven Isolierung beider
ergeben. Diese ,, volle Wirklichkeit" kann gegenüber einer juri-
stischen Betrachtung überhaupt nicht ,,in ihre Rechte eingesetzt
werden".

Nun erscheint aber die Vorstellung der Rechtsordnung — als
eines Komplexes von Sollnormen — ebenso wie die Vorstellung
einer Moralordnung nach Vaihinger an und für sich schon als



<554



ilans Kelsen:



eine Fiktion. Es sind die praktischen Fiktionen^), unter die die
Begriffe der Norm, der Pflicht, des Ideals usw. eingereiht werden
müßten. Wenn auch Vaihinger sich nicht in extenso mit dem
Begriff der Rechtsnorm und des rechtlichen Sollens, der Rechts-
pflicht usw. befaßt, so darf doch angenommen werden, daß von
ihnen dasselbe gelten muß wie von den ethischen Begriffen, die
als Fiktionen angesprochen werden. Man könnte im Sinne Vai-
hingers sagen: Der Jurist betrachtet das Recht so, als ob es
eine Summe von Sollnormen wäre. Allein wenn dies eine Fiktion
ist, wenn das Recht in Wirklichkeit keine Sollnorm ist, was
ist dann das Recht ,,in Wirklichkeit".'' Und weiter: Was ist
eine Sollnorm ? Mit anderen Worten : Wenn die Annahme, daß
das Recht eine Sollnorm ist, eine Fiktion sein soll, dann muß das
Recht etwas anderes, etwas ,, Wirkliches" sein können, und dann
muß auch die ,, Sollnorm" etwas ,, Wirkliches", nur etwas anderes
ais das Recht ,, wirklich ist", darf Sollnorm nicht selbst wieder
eine Fiktion sein. Denn die Fiktion besteht offenbar in einem
Vergleich, und zwar in einer falschen Gleichsetzung eines Wirk-
lichen mit einem anderen Wirklichen, In der Fiktionsformel:
X wird so betrachtet, als ob es Y wäre (obgleich X nicht Y ist),
muß sowohl X als Y etwas Wirkliches sein, bzw-. als etwas Wirk-
liches behauptet sein. Fiktiv ist lediglich die Gleichsetzung. Bei
Vaihinger heißt es von der Fiktionsformel wörtlich: ,, Demnach
wird in dieser Formel ausgesprochen, daß das gegebene Wirk-
liche, daß ein Einzelnes verglichen wurde mit einem anderen,
dessen Unmöglichkeit oder Unwirklichkeit zugleich ausgesprochen
wird ... z. B. in der juristischen Fiktion lautet die Formel so:
Dieser Erbe ist so zu behandeln, wie er zu behandeln wäre, wenn
er vor seinem Vater, dem Erblasser, gestorben wäre, d. h. er ist
zu enterben." Worauf es hier ankommt, ist lediglich die Fest-
.stellung, daß sowohl ,,der Erbe" als auch ,,ein vor dem Erblasser
Gestorbener" an und für sich, d. h. ohne Rücksicht auf die Stellung
(lieser Elemente in der fiktiven Beziehung — etwas Wirkliches
bedeuten. Vaihinger führt auch aus: ,,Es wird also hier zu-
nächst eine Vergleich ung ausgesprochen, d. h. die Aufforderung,
eine vergleichende oder subsumierende Apperzeption zu vollziehen;
ein solcher Satz sagt zunächst nichts anderes, als z. B. der Satz:
D;T Mensch ist wie ein Gorilla zu betrachten, und warum .? weil

») a.a. S. 59ff.



Zur Theorie: der juristischen Fiktionen. 655

11- eben ihm ähnlich ist. Ebenso in allen jenen Fällen: Es wird
die Aufforderung zu einer vergleichenden Apperzeption ausge-
sprochen, allein zugleich mit dieser Aufforderung wird nun in
diesem Falle ausgesprochen, daß diese Vergleichung auf einer
unmöglichen Bedingung beruht; anstatt sie aber nun zu
unterlassen, wird sie aus anderen Gründen doch vollzogen. "i)
Die Fiktion besteht in der Durchführung eines Vergleiches zweier
Wirklichkeiten, trotz der Unmöglichkeit dieses Vergleiches.

Nun ist aber das Recht von vornherein überhaupt nichts
Wirkliches. Es gibt' kein Stück der NaturAvirklichkeit, das als
Recht angesprochen werden kann. Aber selbst wenn man davon
ubsähc: Das Recht wird betrachtet, als ob es eine Sollnorm wäre,
ja aber was ist denn eine Sollnorm.? Nichts Wirkliches, sondern
selbst eine Fiktion, die Fiktion besteht hier nicht nur in dem
,,.'ys-Ob"-Vergleiche, sondern auch in demjenigen, womit das
Recht fiktiv verglichen wird. Die Fiktion, das fiktive Urteil,
behauptet aber — in dem mit als ob eingeleiteten Satze — eine
Wirklichkeit (wenn auch im Widerspruch zu dieser). Die Ana-
lyse der Fiktion muß zu — allerdings falsch verknüpften — Wirk-
lichkeitselementen führen, die Fiktion muß sich auflösen lassen,
sonst hängt sie überhaupt in der Luft.

Darum will es scheinen, als ob auf das, was Vai hinger die
,, praktischen Fiktionen" nennt, die von ihm selbst aufgestellten
Merkmale des Fiktionsbegriffes nicht recht passen. Im Grunde
mußte Vaihinger alle ethischen Begriffe als Fiktionen erklären.
Er tut es ausdrücklich bei den Begriffen: sittliche Weltordnung,
Pflicht, Ideal und einigen anderen. Allein bei allen diesen Be-
griffen muß notwendig gerade jenes Element fehlen, das nach
Vaihinger der Fiktion wesentHch ist: Der Widerspruch zur Wirk-
lichkeit. Denn ein Widerspruch zur Wirklichkeit kann nur vor-
liegen, wenn ein Wirkliches behauptet wird, überhaupt erkannt
werden soll. Vaihinger sagt: ,,Das Ideal ist eine in sich wider-
spruchsvolle und mit der Wirklichkeit im Widerspruch stehende
Begriffsbildung,, welche aber ungeheuren, weltüber^ändenden Wert
hat. Das Ideal ist eine praktische Fiktion. "2) Das kann von
jedem ethischen und juristischen Begriff gelten. Denn es gilt
von dem Begriff des Sollens, der ja mit dem formalen Begriff
des Ideals identisch ist. Allein worin kann der Widerspruch zur

1) a. a. 0. S. 164/165.

2) a. a. O.'S. 67.



656



Hans Kelseu:



Wirklichkeit bestehen, der in irgendeinem Sollsatze, selbst in
jenem vollzogen wird, der Unmögliches zum Inhalt hat ? Der
das Ideal, die Pflicht, die sittliche Forderung aussprechende Satz:
Der A. soll wohltätig sein, und der die Wirklichkeit beschreibende
Satz: Der A. ist nicht wohltätig, widersprechen sich in keiner
Weise. Auch wenn man zugibt • — und man muß dies zugeben ■ — ,
alles, was geschieht, muß so geschehen, wie es geschieht, und
kann nicht anders geschehen, so daß jedes Sollen, das einen
anderen Inhalt hat als das Sein, Unmögliches fordert, so ist
damit dennoch keinerlei Widerspruch zwischen Sein und Sollen
dgegeben. Dem Sein von a widerspricht lediglich das Sein von
7ion a, nicht aber das Sollen von non a. Es wäre denn, man löste
den Sollsatz in einen Als -Ob- Seinsatz auf, und behauptete: Indem
ich a als gesollt behaupte, tue ich so, als ob a seiend wäre. Wenn
ich behaupte : X. soll wohltätig sein, fingiere ich X. (in Gedanken)
als wirklich wohltätig, obgleich er in Wirklichkeit gar nicht wohl-
tätig ist. Das Sollen sei ein fingiertes Sein. Das ist aber offen-
bar unrichtig. In der Vorstellung des Sollens steht uns eben eine
von der Vorstellung des Seins völlig verschiedene Form zur Ver-
fügung, die jeden beliebigen Inhalt aufnehmen kann, ohne zu
einer Seinsvorstellung mit kontradiktorisch entgegengesetztem In-
halt in logischen Widerspruch zu geraten. Mit demselben Rechte,
mit dem ich das Sollen ein fingiertes Sein, könnte ich das Sein
ein fingiertes Sollen nennen. Darum kann ein normativer Begriff
wohl in sich selbst w^iderspruchsvoll sein, er kann aber nie zur
Wirklichkeit in Widerspruch geraten. Denn normative Erkenntnis
ist überhaupt nicht auf das Sein gerichtet. Natürlich kann es
auch innerhalb der normativen Erkenntnis Fiktionen, d. h. Be-
griffe geben, die in einem Widerspruch zu dem spezifischen Er-
kenntnisobjekt stehen. Dieses Erkenntnisobjekt selbst und die
ganze Erkenntnistätigkeit kann aber nicht als Fiktion bezeichnet
werden. Die Begriffe ,,Gott und Gewissen" mögen Fiktionen sein.
Das ,, Sollen", die ,, Pflicht", die ,,Norm" sind es gewaß nicht.
Das zeigt sich deutlich, wenn man die ,, Fiktion'.' der Pflicht in
einem Als- Ob- Satz darzustellen versucht. Wir sollen so handeln,
als ob es unsere Pflicht wäre, so zu handeln. Aber schon in dem
ersten Satze: Wir sollen so handeln, steckt die Behauptung der
Pflicht. Wir sind verpflichtet, so zu handeln, als ob es unsere
Pflicht wäre. Pflicht und Sollen sind identisch. Bedeutet aber
der Satz: Wir sollen so handeln, eine Fiktion.? Er würde es be-



Zur Theorie der juristischen i-iktionen. Ö57

deuten, wenn damit behauptet würde: Wir handeln so, obgleich
wir nicht so handeln. Allein gerade diese Behauptung enthält
er nicht, sondern die: Wir sollen so handeln, obgleich wir viel-
leicht nicht so handeln. '

Eine andere Frage ist, ob und wie sich die in Sollsätzen auf-
gestellten Behauptungen beweisen lassen, ob nicht jedes Normen-
system letztlich auf einen unbeweisbaren Grundsollsatz aufgebaut
ist. Das kann zugegeben werden, ohne daß damit der Charakter
einer Fiktion, d. h. eines Widerspruches zur Wirklichkeit (als
der Natur-Wirklichkoit), konzediert wird.

Der Begriff des Sollcns — und mit ihm die Begriffe der Pflicht,
der Norm, des Ideals, des (objektiven) Wertes — könnten als
Fiktion bezeichnet werden, wenn nicht unter Fiktion ein Vor-
stellungsgebilde verstanden würde, das der Erkenntnis der Wirk-
lichkeit ' dient, und einen Widerspruch zu eben dieser Wirk-
lichkeit setzt. Und ,, Fiktionen" sind das Sollen — das sittliche
wie das rechtliche — nur, wenn unter Fiktionen alles verstanden
wird, was nicht Ausdruck, und zwar widerspruchsloser Ausdruck,
der Natur -Wirklichkeit ist. Wenn man Vaihinger auch zugeben
kann, daß die Rechtsnormen — so wie die ganze Welt des Sollens —
imaginative Produkte des menschlichen Geistes sind, Phantasic-
gebilde im Verhältnis zu der Sinnen-Welt des Natur-Seins^), so
ist damit noch keineswegs die Notwendigkeit eines Widerspruches
zu dieser Wirklichkeit gegeben, das erste seiner ,, Hauptmerk-
male", an denen ,,man sofort jede Fiktion erkennen" kann. 2)
Gerade in der Kategorie des Sollens ist eine Form geschaffen,
in der die Phantasie ohne Widerspruch zu der Wirklichkeit des
Seins sich entfalten kann. Andererseits muß die Welt des Sollens
als ein, wenn auch anderes, so doch mit der Natur-Wirklichkeit
gleichberechtigtes Objekt der (ethischen oder juristischen) Er-
kenntnis, als eine eigene Art von Wirklichkeit gelten, wenn
es hier echte Fiktionen geben soll.



Gerade diejenigen juristischen Fiktionen (das sind die der
Gesetzgebung und Rechtsanwendung), mit Hilfe deren Vaihinger
zum großen Teile seine glänzende Theorie dargestellt hat, haben

1) a. a. 0. S. 70.

2) a. a. 0. S. 171 ff.

Annalen der Philosophie. L 4^



(',eg Hans Kelsen: Zur Theorie der juristischen Fiktionen.

sich bei näherer Betrachtung gar nicht als solche Dcnkgebildc er-
wiesen, deren Wesen und Erkenntniswert zu entdecken, das große
Verdienst Vaihingers ist. Dagegen weist die Rechtswissenschaft
andere, durchaus analoge Hilfsbegriffe auf. Doch fällt das Licht
auf diese Fiktionen nicht eigentlich aus der Rechtswissenschaft
— wie Vaihinger meint — , sondern umgekehrt: Die echten,
theoretischen Fiktionen der Rechtswissenschaft werden verständ-
lich durch die Fiktionen der Mathematik und der anderen Wissen-
schaften. Die Fiktionen der Rechtstheorie haben gar nichts spezi-
fisch Juristisches an sich, sie sind keine für die Jurisprudenz
charakteristische Methode.

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