Von
Dr. Hans Eelsen,
a, ö. Professor an der Universität in Wien.
Inhaltsübersicht.
I. Der Begriff der Fiktion und der Gegenstand rechtswissenschaftlicher Er-
kenntnis. Der Widerspruch zur ,, Wirklichkeit". Die Natur-Wirklichkeit und die
Rechts-Wirklichkeit. Die Erweiterung des Vaihingerschen Fiktionenbegriffes.
Echte Fiktionen der Rechtstheorie. Das Rechtssubjekt.
II. Die sogenannten ,, Fiktionen" der Rechtspraxis. Die Pseudofiktionen
des Gesetzgebers. Ihr prinzipieller Unterschied gegenüber den erkenntnistheo-
retischen Fiktionen; Mangel des Erkenntniszwecks und des Widerspruchs zur
Wirklichkeit der Natur wie des Rechtes. Der Art. 347 des Deutschen Handels-
gesetzbuches. Die praesumptio juris. Die prätorischen Fiktionen.
III. Die „Fiktionen" der Rechtsanwendung. Die Analogie. Ihr unkorrigier-
barer Widerspruch zur Rechts-Wirklichkeit und ihre juristische Unzulässigkeit.
Die rechtlich gebotene Analogie.
IV. Rechtstheorie und Rechtspraxis. Die moralische Fiktion der ,, Freiheit".
Ihre Entbehrlichkeit bei Aufhebung des fehlerhaften Synkretismus von Seins- und
Sollens-Betrachtung. Die Fiktion des „Staatsvertrages". Ihre Entbehrlichkeit
vom Standpunkte des Rechtspositivismus.
V. Die Souveränität der Rechtsordnung. Die Unabhängigkeit des Rechts
von der Moral. Der angeblich fiktive Charakter dieser Isolierung. Die „prak-
tischen" Fiktionen Vaihingers. Die Rechtsnorm und die Rechtspflicht keine
Fiktionen.
I.
Seine bedeutende Theorie der Fiktionen hat Vaihinger nicht
zum geringsten Teil an den „juristischen" Fiktionen entwickelt.
Die juristische Fiktion erklärt er geradezu für einen der charak-
teristischen Typen dieses Vorstellungsgebildcs. Er meint, daß es
neben der Mathematik fast kein Gebiet gäbe, das zur Deduktion
logischer Gesetze und Illustrierung oder Entwicklung logischer
Methoden im allgemeinen und der Fiktionsmethode im besonderen
passender wäre, als gerade das Jus. Und er bedauert, daß die
Logiker sich gerade die juristische Fiktion haben entgehen lassen,
weil sie überhaupt nicht einsahen, daß die Logik ihr Material aus
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 5^1
der lebendigen Wissenschaft zu entnehmen hiibe.^) Für Vai-
hinger ist die juristische Fiktion eine , .wissenschaftliche" Fik-
tion^) und prinzipiell identisch mit den erkenntnistheoretischen. 3)
Er betont ausdrücklich, ,,die formale Identität der Vcrstandes-
handlung und des ganzen Vorstellungszustandes in den juridischen
Fiktionen mit den anderen wissenschaftlichen Fiktionen".'*) —
Unter der Bezeichnung der „juristischen Fiktion" werden
jedoch sehr verschiedene Erscheinungen zusammengefaßt. Nur
ein verhältnismäßig kleiner Teil stellt sich als Fiktion in der eigent-
lichen Bedeutung des Wortes, als Fiktion im Sinne des von Vai-
hinger aufgestellten Begriffes dar. Ja, das meiste, was Vai-
hinger selbst als ,, juristische Fiktion" behandelt und seiner hoch-
! verdienstlichen Theorie zugrunde gelegt hat, ist gar keine Fiktion,
ist zumindest nicht das Vorstellungsgebildc, auf welches^ jene
charakteristischen Merkmale passen, die er treffend bestimmt hat.
So rückhaltlos den prinzipiellen Ergebnissen der Vaihingerschen
Philosophie des Als Ob zugestimmt werden kann, so muß doch
gerade die von Vaihinger mit besonderer Vorliebe herangezogene
juristische Fiktion als unzutreffendes Argument bezeichnet werden.
Die Fiktion charakterisiert sich nach Vaihinger ebensosehr
durch ihren Zweck wie durch das Mittel, mit dem sie diesen Zweck
erreicht. Der Zweck ist: Erkenntnis der Wirklichkeit, das Mittel:
eine Fälschung, ein Widerspruch, ein Kunstgriff, ein Umweg und
Durchgangspunkt des Denkens. Ein Mittel der Logik, wenn
auch ein abnormales, ist die Fiktion; sie hat erkenntnistheo-
retischen Charakter, als einem Erkenntnismittel kommt ihr Be-
deutung zu.*^)
Dabei ist es die Erkenntnis der Wirklichkeit, der die Fik-
tion dient. ,,Die bewußte Abweichung von der Wirklichkeit soll
die Erreichung der letzteren vorbereiten."**) Und der Wider-
spruch zu der Wirklichkeit ist eines der Hauptmerkmale der
Fiktion.')
Nun muß es schon von vornherein zweifelhaft sein, ob man
') Die Philosophie des Als-ob. 2. Aufl. S. 46.
■') a. a. 0. S. 257.
•^) a. a. 0. S. 447-
*) a. a. 0. S. 250.
") a. a. O. S. i75ff. u- passim.
«) a. a. O. S. 27.
') a. a. 0. S. 171 ff.
632
Hans Kelsen:
Jioffen kann, m einer Wissenschaft Fiktionen anzutreffen, die
ihrem Wesen nach gar nicht auf Erkenntnis der Wirkhchkeit
sjorichtet sind. Wenn die Fiktion ein eigenartiges Mittel ist, die
Reahtät zu erfassen, dann könnte nur eine von ihrem Wege gänz-
hch abgeirrte rechtswissenschafthchc Betrachtung sich einer Fiktion
in diesem Sinne bedienen, und dann kann eine Fiktion rechts-
wissenschafthchc Erkenntnis niemals — auch nicht indirekt,
auf einem Umwege — fördern. Wenn in der Fiktion ein Wirk-
liches behauptet wird (im Widerspruch zur Wirklichkeit aller-
dings), dann kann auf dem Gebiete einer Wissenschaft, deren
Erkenntnisse nicht auf die Wirklichkeit bezogen sind, eine Fik-
tion stets nur eine unzulässige und gänzlich unnütze, bloß schäd-
liche Entgleisung sein.
Und Vai hinger ist sich der wahren Natur der Rechtswissen-
schaft durchaus bewußt! Er betont wiederholt, daß die Juris-
prudenz nicht ein Seiendes zu erkennen habe. ,,Bis jetzt fanden
wir als einzig wirkliche wissenschaftliche Fiktion nur die juri-
dische, allein hier ist doch zu bemerken, daß die Rechtswissenschaft
nicht eine eigentliche Wissenschaft des Seienden ist, sondern eine
Wissenschaft menschlicher, willkürlicher Einrichtungen. "i) Die
Erkenntnis der Rechtswissenschaft geht auf ein Sollen; ihr
Gegenstand ist als ,,menschhche willkürliche Einrichtungen" nicht
richtig charakterisiert, denn auch menschliche willkürliche Ein-
richtungen sind ein Seiendes und können Gegenstand einer Seins-
wissenschaft, z. B. der Soziologie, sein.
Indes erwächst gerade aus dieser Richtung kein ernstlicher
Einwand — nur eine allerdings nicht unwesentliche Modifikation —
für die Vaihingersche Fiktionentheorie. Denn die Rechtswissen-
schaft operiert tatsächlich mit Fiktionen. Welcher Art die sind,
und daß die meisten von Vaihinger als ,, juristische Fiktionen"
angeführten es nicht sind, wird später noch zu zeigen sein. Hier
sei nur bemerkt, daß der Begriff der Vaihingerschen Fiktion
sich dann als zu eng erweist, wenn man die Sinnenwirklich-
keit als den einzigen Gegenstand, das einzige Ziel oder Produkt
der Erkenntnis gelten läßt. Und dies ist wohl nicht gut möglich,
wenn man neben der Naturwissenschaft auch andere Wissen-
schaften, etwa Ethik, vor allem aber Rechtswissenschaft aner-
kennt. Der so erweiterte Fiktionsbegriff ergibt sich, wenn man
'; a. a. 0. S. 257.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 633
an Stelle der „Wirklichkeit", als einen speziellen Gegenstand der
Erkenntnis, diesen Erkenntnisgegenstand in seiner Allgemein-
heit treten läßt. Und eine Fiktion liegt vor, wenn die Erkenntnis
— - und im besonderen auch die juristische — bei ihrem Be-
mühen, ihren Gegenstand — und bei der juristischen, der Rechts-
wissenschaft, ist es das Recht, die Rechtsordnung, das recht-
liche Sollen — einen Umweg macht, bei dem sie bewußt in einen
Widerspruch zu diesem ihrem Gegenstand gerät; freilich nur zu
dem Zwecke, um ihn dann um so besser zu packen: So wie ein
Bergsteiger sich manchmal gezwungen sieht, vorübergehend in
einer dem angestrebten Gipfel entgegengesetzten Richtung nach
abwärts zu klettern, um einem Hindernis aus dem Wege zu gehen
und so leichter sein Ziel zu erreichen.
In diesem Sinne gibt es echte, d. h. erkenntnistheoretische
Fiktionen der Rechtswissenschaft, Fiktionen des auf Erkenntnis
des Rechtes, auf geistige Bewältigung der Rechtsordnung ge-
richteten Denkens. Fiktionen der Rechtstheorie. Eine solche
Fiktion, ein Hilfsbegriff, eine Hilfskonstruktion ist z. B. der
Begriff 4es Rechtssubjektes oder der Begriff des subjektiven
Rechtes.
Es kann in diesem Zusammenhange nicht darauf ankommen,
den Rechtsbegriff des Rechtssubjektes oder der Person allseitig
zu untersuchen. Es soll lediglich gezeigt werden, wie fruchtbar
Vai hingers Philosophie des Als Ob auf die Fiktionen der
Rechtstheorie angewendet werden kann.
Die Person — die physische wie die juristische — lebt in der
Vorstellung der Juristen als ein von der Rechtsordnung verschiedenes,
selbständig existentes Wesen, das für gewöhnlich als ,, Träger" von
Pflichten und Rechten bezeichnet wird und dem man bald mehr,
bald weniger auch ein reales Dasein zuspricht. Ob man diese
Realität auf die physische Person beschränkt oder — wie in der
organischen Theorie — auch auf die sogenannten juristischen
Personen ausdehnt, ist hier gleichgültig. Es genügt die Kon-
statierung der ausgesprochenen Tendenz zur Realsetzung der
Person.
Wenn, was hier nicht näher bewiesen werden kann, das Rechts-
subjekt, das physische sowohl wie das juristische, sich als nichts
anderes herausstellt, als die zum Zwecke der Vereinfachung und
Veranschauhchung vorgenommene Personifikation eines Kom-
plexes von Normen, d. h. der Rechtsordnung als Ganzes (die
634
Hans Kelsen :
Staatsperson) oder einzelner Teilrechtsordnungen (die anderen
physischen und juristischen Personen), dann wäre die Vorstellung
der Person, so wie sie der modernen Jurisprudenz geläufig ist,
ein typisches Beispiel jener Fiktionen, deren interessanten und
komplizierten Denkmechanismus Vaihinger durchleuchtet hat,
E^s wäre ein Denkgebilde, bestimmt, den Gegenstand der Rechts-
wissenschaft, die Rechtsordnung, gedanklich zu erfassen, dabei
aber offenbar aus der Phantasie geschaffen und zu dem Er-
kenntnisobjekt hinzugedacht, den Gegenstand sozusagen ver-
doppelnd und so das Erkenntnisbild verfälschend. Damit tritt
aber dieser Denkbehelf zu dem Gegenstand, der spezifischen
Rechtswirklichkeit, in einen Widerspruch und wird, wie dies jede
Analyse des Personenbegriffs zeigen kann, in sich selbst wider-
spruchsvoll. Und wenn die Person, die ursprünglich nur als ein
spezifischer Denkbehelf zur Erfassung der Rechtsordnung dieser
gegenüber wie ein Gerüst aufgebaut wurde, als reales Wesen,
d. h. als eine Art Naturding behauptet wird, dann bedeutet eine
so gesteigerte Fiktion der Person sogar einen Widerspruch zur
Naturwirklichkeit, was nur bei der argen Grenzüberschreitung
einer Rechtstheorie möglich ist, die vermeint, reale Natur tatsachen
zum Gegenstand zu haben.
Der Begriff des Rechtssubjektes ist vor allem zu jenen Fik-
tionen zu rechnen, die Vaihinger als die ,,personifikativen" be-
zeichnet. Sie entstammen dem unserem Vorstellungsapparat von
jeher beherrschenden anthropomorphistischen Personifikationstrieb,
jenem ,, unverwüstlichen Hange des Menschengeschlechtes"^), alles
rein Gedankliche in der Form der Person, des Subjekts, zu hypo-
stasieren und so zu veranschaulichen. „Das gemeinsame Prinzip
ist die Hypostase von Phänomenen in irgendeiner Hinsicht, mag
diese Hypostasierung sich mehr oder w^eniger an das Bild der
Persönlichkeit anschließen. Dies letztere ist auch der eigentlich
bestimmende Faktor in der Kategorie des Dinges."^) ,,Das Ur-
schema der Substanzialität ist ja die Personalität."^) Dies trifft
durchaus auf die Personifikation des Rechtes (d. h. der Rechts-
norm) zu, als welche wir das Rechtssubjekt erkennen müssen.
Es ist die Hypostasierung jenes reinen Gedankendinges, als das
sich die Rechtsnorm, das Gesollt-Sein menschlichen Verhaltens
') a. a. O. S. 391.
*) a. a. O. S. 50.
=") a. a. O. S. 391.
Zur Theoiie der juristischen Fiktionen. 635
darstellt. Und die Erkenntnis, daß der Dingbegriff auch eine
personifikative Fiktion darstellt, läßt das Rechtssubjekt und das
als ,,Ding" gedachte subjektive Recht als durchaus gleichartige,
wenn nicht als identische Hypostasierungen der ,, objektiven"
Rechtsnorm erscheinen. Es kann gar nicht nachdrücklich genug
hervorgehoben werden, daß der Begriff des Rechtssubjektes von
derselben logischen Struktur ist, wie die charakteristischste ?ller
personifikativen Fiktionen, der Begriff der Seele, oder der Begriff
der Kraft ^), deren logische Unhaltbarkeit nichts gegen ihre tat-
sächliche Praktikabilität spricht. Es lohnte sicherlich den Ver-
such, in dem Rechtssubjekt eine Art Rechtsseelc zu begreifen.
Und es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, daß in den Be-
griffen der sittlichen Persönlichkeit und des ,, Gewissens" durchaus
die gleichen, der Veranschaulichung dienende Personifikationen
der Moralnorm vorliegen. Die Verdoppelung des Erkenntnis -
Objekts, die mit der Fiktion im allgemeinen, insbesondere aber
mit der Personifikation vollzogen wird, charakterisiert Vaihingen
auf das Zutreffendste und man könnte jene eigenartige Dupli-
kation des Rechtes, jene Tautologie, die in dem Begriff der Rechts-
person steckt, kaum besser schildern, als mit den Worten Vai-
hingers, der selbst dabei nicht den Rechtsbegriff der Person,
sondern den Kraftbegriff im Auge hat: ,, Solche Begriffe hat ins-
besondere das 17. Jahrhundert viele geschaffen^) in allen Wissen-
schaften; damals glaubte man, damit wirklich etwas begriffen
zu haben; aber ein solches Wort ist nur eine Schale, welche den
sachlichen Kern zusammenhalten und aufbewahren soll. Und
wie die Schale in allen ihren Formen sich dem Kerne anschmiegt
und ihn einfach verdoppelt äußerlich wiedergibt, so sind auch .
diese Worte oder Begriffe nur Tautologien, welche die eigentliche
Sache in einem äußeren Gewände wiederholen. "5)
Die Widersprüche, die mit dem Begriff des Rechtssubjekts
gesetzt sind, das ein von der Rechtsnorm (dem , .objektiven Recht")
verschiedenes Wesen zu sein behauptet, und dennoch nur dessen
Wiederholung ist, sie werden zwar nicht aufgelöst, aber sie werden
uns begreiflich, wenn wir wissen (nachdem es uns Vaihingen
^) a. a. O. S. 50.
*) Hier muß daran erinnert werden, daß Schloßmann (Persona und TiQoaamov
im Recht und im christlichen Dogma. Kiel, 1906.) auch den Begriff der Rechtsperson
auf die Systematik des 17. Jahrhunderts zurückführt.
3) a. a. O. S. 52.
^2,6
Hans Kelsen:
gesagt hat), daß es das Wesen des Denkweges der Fiktion ist,
sich in Widersprüche zu verwickehi. ,,Das Denken führt ganz
von selbst auf gewisse Scheinbegriffe hin, ebenso wie das Sehen
auf notwendige optische Täuschungen. Wenn wir jenen optischen
Schein als notwendigen erkennen, wenn wir die dadurch gesetzten
F'iktionen mit Bewußtsein akzeptieren und sie gleichzeitig durch-
schauen (z. B. Gott, Freiheit usw.), so können wir die dadurch
entstandenen logischen Widersprüche als notwendige Produkte
unseres Denkens ertragen, indem wir erkennen, daß sie not-
wendige Folgen des inneren Mechanismus des Denkorgans selbst
smd."i)
Darum kann jene an sich widerspruchsvolle Fiktion des Rechts-
subjekts wegen des Vorteils der Veranschaulichung und der
Vereinfachung, den sie mit sich bringt, ohne Schaden für die
Rechtswissenschaft stehen gelassen werden. Allerdings nur insolange
und nur insoweit, als man sich ihres fiktiven Charakters und der
Verdoppelung bewußt bleibt, die mit dem Personenbegriff voll-
zogen wird. Insolange ist auch dasjenige nicht notwendig, was
Vaihinger die Korrektur der Fiktion nennt. ,,Ist ein Wider-
spruch gegen die Wirklichkeit da, so kann die Fiktion eben nur
Wert haben, wenn sie provisorisch gebraucht ist. Darum muß
auch . . . eine Korrektur eintreten."^) ,,Der Fehler muß rück-
gängig gemacht werden, indem das fiktiv eingeführte Gebilde
einfach wieder hinausgeworfen wird."^) Er sagt z\t^ar ausdrück-
lich: ,,Bei den juristischen Fiktionen dagegen scheint eine solche
Korrektur gar nicht nötig zu sein; und sie ist es auch nicht. Denn
hier handelt es sich ja nicht um exakte Berechnung eines Wirk-
lichen, sondern um Subsumtion unter ein willkürliches Gesetz,
ein Menschenwerk, kein Naturgesetz, kein Naturverhältnis."*)
Allein Vaihinger denkt dabei eigentlich nicht an jene Art von
Fiktion, als welche sich der Rechtsbegriff der Person darstellt.
Dieser ist von der Rechtswissenschaft, von der Theorie oder der
Erkenntnis des Rechtes erzeugt. Nicht so die ,, juristischen" Fik-
tionen, deren sich der Gesetzgeber oder der Rechtsanwender be-
dient und die Vaihinger — obgleich es sich hier nicht eigentlich
um der Erkenntnis dienende Vorstellungsgebildc und somit gar
*) a. a. O. S. 223.
*) a. a. O. S. 173-
') a. a. O. S. 297.
•*) a. a. S. S. 107.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 637"
nicht um Fiktionen im logischen Sinne handelt — dennoch
vornehmlich im Auge hat. hidcs trifft Vaihingcrs Bemerkung
gerade auf die rechtstheoretische Fiktion des Rechtssubjektes
zu. Nur daß das Wesen der Rechtswissenschaft zum Unterschied
von der Naturwissenschaft bloß negativ richtig charakterisiert ist,
wenn gesagt wird, daß es sich hier nicht um Erfassung der Wirk-
lichkeit handle. Positiv liegt der Rechtswissenschaft die Erfassung
eines Sollens, die Erkenntnis von Normen ob.
Solange also der Begriff der Rechtsperson als das genommen
wird, was er seiner logischen Struktur nach ist: ein Spiegelbild,
kann er mit Nutzen verwendet werden. Allein es zeigt sich, daß
er die mit jeder Personifikation gesetzte Gefahr nicht vermieden
hat: die Hypostasierung zu einem realen Naturding. Indem die
Theorie ein bloßes Spiegelbild als reales Ding auffaßt, steigert
sie den Widerspruch, in dem das Recht als Subjekt (d. i. das
Rechtssubjekt) zum Recht als Objekt (d. i. dem objektiven Recht)
schon an und für sich und ohne Realsetzung steht, zu einem
Widerspruch zur Wirklichkeit. Mit der Rechtsperson wird eine
natürliche Realität behauptet, die es nie und nirgends in der Wirk-
lichkeit gibt. Das gilt in gleicher Weise für die ,, physische" wie
für die sogenannte ,, juristische" Person. Treffend vergleicht Vai-
hinger die fiktiven Denkgebilde mit ,, Knoten und Knotenpunkten",
die sich das Denken selbst aus der ihm dargebotenen Faden knüpft,
,,die dem Denken Hilfsdienste leisten, die aber demselben selbst
zu Fallstricken werden, wenn diese Knoten als etwas genommen
werden, was die Erfahrung selbst objektiv enthält". i) Gerade
diese unzulässige Realsetzung der Person führt aber — wie dies
Vaihinger bei anderen Fiktionen gezeigt hat — zu all den ,, Schein-
problemen", den ,, künstlich geschaffenen Schwierigkeiten", den
, .selbst erzeugten Widersprüchen", deren die Lehre von den ,, juri-
stischen" Personen ebenso voll ist, wie alle philosophischen und
wissenschaftlichen Theorien, die sich um einen fiktiven Begriff
bilden. 2)
Hier muß allerdings eine ,, Korrektur" einsetzen, und diese
kann auf keine andere Art erfolgen, als durch eine Reduktion des
1) a. a. 0. S. 230.
2) ,,Eine Lösung des sogenannten Welträtsels wird es nie geben, weil das
meiste, was uns rätselhaft erscheint, von uns selbst geschaffene Widersprüche sind,
die aus der spielenden Beschäftigung mit den bloßen Formen und Schalen der Er-
kenntnis entstehen." Vaihinger, a. a. 0. S. 52.
638
Hans Kelsen:
Personenbegriffs auf seine natürlichen Grenzen, durch Selbst-
besinnung der Rechtswissenschaft, durch das Klarstellen seiner
lo<»ischen Struktur. Wenn man von dem Rechtsbegriff der Person
niclit mehr verlangt hätte, als er kraft seiner Natur leisten kann,
dann wäre jene gänzlich fruchtlose Diskussion zum größten Teile
erspart worden, die sich über den Begriff der Person, insbesondere
aber über den der ,, juristischen" Person entwickelt hat; dann
wären jene oft geradezu naiven und paradoxen Entgleisungen der
juristischen Theorie, jene nur aus der irreführenden Gewalt der
auch wissenschaftliches Denken verblendenden Fiktion erklärlichen
Ausschreitungen der organischen Theorie, die sich ja geradezu in
einen juristischen Mystizismus versteigen mußte, vermieden worden.
IL
Deutlich zu scheiden von den rechtstheoretischen Fiktionen
sind die sogenannten ,,fictiones juris", sind die Fiktionen der
Rechtspraxis, das ist: des Gesetzgebers und Rechts-
anwenders. Was zunächst die ,, Fiktionen" betrifft, deren sich
der Gesetzgeber bedient, die Fiktionen innerhalb der Rechts-
ordnung, so liegen hier überhaupt keine ,, Fiktionen" im Sinne
Vaihingers vor. Zunächst schon deshalb nicht, weil die norm-
setzende, die gesetzgeberische Tätigkeit kein Denkprozeß, weil
ihr Ziel nicht Erkenntnis ist, sondern weil sie, wenn sie über-
haupt als Prozeß oder Vorgang ins Auge gefaßt wird, eine
Willcnshandlung darstellt. Die Rechtsordnung ist in Worten
ausgedrückt und diese Worte weisen zweifellos häufig jene Sprach-
form auf, hinter der sich die erkenntnistheoretische Fiktion
zu verbergen pflegt: das ,,Als Ob". Allein mangels jedes Er-
kcnntniszwcckcs der Rechtsordnung — die ja als solche Gegen-
stand der Erkenntnis, nicht Erkenntnis oder Ausdruck der Er-
kenntnis ist — können die Worte eines Rechtsgesetzes niemals
eine „Fiktion" im Sinne Vaihingers enthalten.
Es sei gleich dasjenige Beispiel untersucht, das Vaihinger
in dem Kapitel über ,, juristische Fiktionen" heranzieht: der
Artikel 347 des deutschen Handelsgesetzbuches, ,,wo die Be-
stimmung getroffen ist, daß eine nicht rechtzeitig dem Absender
wieder zur Verfügung gestellte Ware zu betrachten sei, als ob
sie vom Empfänger definitiv genehmigt und akzeptiert sei".*)
') a. a. 0. S. 46ff.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 639
An einem solchen Beispiel sei so recht die prinzipielle Identität
der analogischen Fiktionen, z. B. der Kategorien, mit dieser juri-
stischen Fiktion zu studieren. Allein in den Kategorien, sowie
in allen echten Fiktionen, will der menschliche Geist die Wirk-
lichkeit oder sonst ein Objekt begreifen. Mit der Fiktion des
Artikel 347 soll weder die Wirklichkeit oder sonst etwas be-
griffen, erkannt, sondern geregelt, soll eine Vorschrift für das
Handeln gegeben, also eigentlich eine Wirklichkeit geschaffen
werden. Nun besteht ja zwischen dem die Welt mit den Kate-
gorien ordnenden und solcher Art — als geordnete Einheit —
erst schaffenden Geist der Erkenntnis und dem die Rechtswelt
regelnden und so erzeugenden Gesetz eine gewisse Verwandt-
schaft. Allein die prinzipielle Differenz zwischen der erkenntnis-
theoretischen und der juristischen Fiktion des Gesetzgebers zeigt
sich sofort in dem Umstand, daß bei der letzteren niemals ein
Widerspruch zur Wirklichkeit, sei es der Natur, sei es der Wirk-
lichkeit des Rechtes (d. i. des Rechtes als Gegenstand der Er-
kenntnis) eintreten kann. Dieser Widerspruch könnte nur in
einem Urteil über das, was ist (und wenn man den hier vorge-
schlagenen erweiterten Fiktionsbegriff akzeptiert: über das, was
sein soll) enthalten sein. Allein das Gesetz kann ein solches Urteil
gar nicht enthalten. In dem Gesetz werden eben keine Erkennt-
nisse geäußert. Die Sätze, in denen sprachlich das Gesetz zum
Ausdruck kommt, sind überhaupt nicht Urteile in diesem eigent-
lichen Sinne. Der Artikel 347 sagt keineswegs, daß die nicht
rechtzeitig retournierte Ware vom Empfänger definitiv genehmigt
und angenommen sei. Er sagt lediglich, daß für den Fall der
nicht rechtzeitigen Retournierung dieselbe Norm gelten solle,
wie für den Fall der Annahme, daß dem Empfänger und dem
Absender dieselben Pflichten auferlegt, dieselben Rechte ein-
geräumt werden, wie im Falle der Annahme. Der Artikel 347
trifft die Bestimmung, daß eine nicht rechtzeitig retournierte
Ware ebenso zu behandeln sei, wie eine angenommene. Die
Sprachform des ,,Als Ob" ist somit gar nicht wesentlich, sie kann
durch das ,, Ebenso Wie" ersetzt werden. Wenn das Gesetz zwei
verschiedene Fälle unter dieselbe Norm stellt, so behauptet es
damit keineswegs, daß beide Fälle gleich — im Sinne von natur-
gleich — seien. Sonst wäre ja jede generelle Norm eine ,, Fik-
tion", da es überhaupt nicht zwei gleiche Menschen, zwei gleiche
Verhältnisse gibt. ,, Rechtlich" sind sie aber effektiv, tatsächlich,
640
Hans Kelsen:
wirklich gleich, weil durch die Rechtsordnung gleich gemacht.
Der Artikel 347 ist, wie jede sogenannte ,, Fiktion" des Gesetz-
gebers, nichts anderes als eine abbrevierende Ausdrucksweise.
Das Gesetz will für einen Fall dasselbe anordnen wie für einen
anderen. Die Formulierung in einer einzigen Norm ist zu um-
ständlich, zu schwerfällig, oder es wurde nicht gleich auch an den
zweiten Fall gedacht. Alle Vorschriften, die für den ersten Fall
schon ausgesprochen wurden, beim zweiten Falle noch einmal
zu wiederholen, ist jedoch überflüssig. Der Gesetzgeber kann
sich mit dem Hinweis begnügen, daß im zweiten Falle dieselben
Vorschriften gelten sollen wie im ersten. Es ist ein Mißverständnis,
zu" glauben, dieser Effekt werde dadurch erzielt, daß der Rechts-
anwender zu der Vorstellung gezwungen wird, beide Fälle seien
gleich, d. h. unterscheiden sich in ihren Tatbeständen nicht. Daß
sie ,, rechtlich" gleich seien, bedeutet nichts anderes, als daß bei
natüdicher Verschiedenheit des Tatbestandes die gleiche
Rechtsfolge eintritt. Und diese Verschiedenheit des Tatbestandes
darf bei der Rechtsanwendung keineswegs ignoriert werden. Der
Richter muß durch Tatsachenforschung feststellen, ob die Ware
angenommen oder ob sie nicht rechtzeitig retourniert wurde.
Wenn der beklagte Empfänger behauptet: Ich habe die Ware
nicht angenommen, muß der Beweis geführt werden, daß sie
nicht rechtzeitig retourniert wurde. Wo ist der Widerspruch zur
Wirklichkeit }
Im Zusammenhang mit einer Unterscheidung zwischen der
fictio juris (Fiktion des Gesetzgebers) und der praesumptio charak-
terisiert Vaihinger die juristische Fiktion folgendermaßen: ,,In
der praesumptio wird eine Voraussetzung so lange gemacht, bis
das Gegenteil bewiesen ist. Dagegen ist die fictio die An-
nahme eines Satzes bzw. einer Tatsache, obwohl das Gegen-
teil sicher ist." Als Beispiel führt er an: ,,Wenn ein Ehegatte,
dessen Ehefrau etwa Ehebruch begeht, doch als Vater des dadurch
erzeugten Kindes angesehen wird, wenn er zu derselben Zeit im
Lande war: Da wird er betrachtet, als ob er der Vater wäre, ob-
gleich er es nicht ist und obgleich man weiß, daß er es nicht ist.
Dieser letztere Zusatz unterscheidet die praesumptio von der
fictio."*) Allein so richtig es ist, zwischen fictio und praesumptio
zu unterscheiden, so unrichtig ist in diesem Gegensatz die fictio
') a. a. O. S. 258.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 64 1
charakterisiert. Das Gesetz behauptet nicht, daß der Ehegatte
unter gewissen Voraussetzungen der Vater — d.h. der natür-
liche Vater, Erzeuger des von s^einer Frau im Ehebruch er-
zeugten Kindes ist. Es stellt keinen Satz auf, nimmt keine Tat-
sache an, obwohl das Gegenteil sicher ist. Sondern es ordnet nur
aus bestimmten Gründen und zu bestimmten Zwecken an: Daß
der Ehegatte unter gewissen Umständen einem von seiner Fn.u
im Ehebruch erzeugten Kinde gegenüber, und daß dieses Kind
dem Ehegatten gegenüber dieselben Pfhchten und Rechte habe,
wie sie zwischen dem Ehegatten und seinen von ihm erzeugten
ehelichen Kindern bestehen. Wenn sich das Gesetz des Ausdrucks
bedient: Der Ehegatte gilt unter den bezeichneten Umständen
,,a]s Vater" des im Ehebruch erzeugten Kindes, er ist anzusehen,
,,als ob" er der Vater wäre, so ist dies nichts als eine abkürzende
Formulierung der Rechtsnorm. Ein "Widerspruch zur Wirklich-
keit ist damit in keiner Weise gesetzt. Ja, man kann sogar
— ohne einen solchen Widerspruch zur Wirklichkeit zu begehen ■ —
rechtstheoretisch behaupten: Der Ehegatte ist rechtlich der Vater,
ist der ,, rechtliche" ,, Vater" des im Ehebruch erzeugten Kindes,
wenn man mit ,, Vater" einen spezifischen Rechtsbegriff, nämlich ein
Subjekt bestimmter Pflichten und Rechte, die Personifikation
eines bestimmten Normkomplexes konstituiert. Eine Fiktion
im Sinne eines Widerspruches zur Wirklichkeit vollzöge sich erst
dann, wenn man diesen Rechtsbegriff des ,, Vaters" mit der
Naturtatsache des so benannten männlichen Erzeugers
identifizierte. Eine solche Fiktion ist allerdings nur falsch und
schädlich und gänzlich überflüssig. Es wäre die gleiche Fiktion
wie jene, die oben in der Hypostasierung der Rechtsperson zur
Naturtatsache des Menschen oder des ,, realen" Organismus ge-
kennzeichnet wurde. Und dabei wäre es eine Fiktion der Rechts-
theorie, der auf Erkenntnis des Rechts gerichteten Tätigkeit,
nicht des Gesetzgebers, dessen Tätigkeit auf Erzeugung des
Rechts gerichtet ist.
Zu den großen Verdiensten der Vaihingerschen Unter-
suchungen gehört die Erkenntnis von der innigen Verwandt-
schaft der mathematischen Methode mit der Begriffstechnik der
Rechtswissenschaft. 1) Allein gerade die völlige Gleichsetzung der
gesetzgeberischen Fiktion mit den Fiktionen der Mathematik
1) a. a. O. S. 80, 251, 6gi{., 187.
Annalen der Philosophie. I. 4^
(5_^2 Hans Kelsen:
muß als verfehlt bezeichnet werden. ,,Die Ähnlichkeit der Methode
beider Wissenschaften beschränkt sich nicht nur auf die Grund-
begriffe, welche in beiden Gebieten rein fiktiver Natur sind, sondern
zeigt sich auch in dem ganzen methodischen Verfahren. Was
zuerst das letztere betrifft, so handelt es sich oft in beiden Ge-
bieten darum, einen einzelnen Fall unter ein Allgemeines zu sub-
sumieren, dessen Bestimmungen nur auf jenes Einzelne angewendet
werden sollen. Nun aber widerstrebt das Einzelne dieser Sub-
sumtion. Denn das Allgemeine ist nicht so umfassend, um dieses
Einzelne unter sich zu begreifen. In der Mathematik handelt es
sich z. B. darum, die krummen Linien unter die geraden zu sub-
sumieren; das hat ja den enormen Vorteil, dann mit denselben
rechnen zu können. In der Jurisprudenz handelt es sich darum,
einen einzelnen Fall unter ein Gesetz zu bringen, um dessen Wohl-
taten und Straf bestimmungen auf jenen Fall anzuwenden. In
beiden Fällen wird nun dies in Wirklichkeit nicht her-
zustellende Verhältnis als hergestellt betrachtet: So wird
z. B. die krumme Linie als gerade betrachtet, so wird der Adoptiv-
sohn als der wirkliche Sohn betrachtet. Eine krumme Linie ist
niemals gerade, ein Adoptivsohn ist niemals ein wirklicher Sohn;
oder um ein anderes Beispiel zu wählen: Der Kreis soll als eine
Ellipse gedacht werden; in der Rechtswissenschaft wird der nicht
erschienene Beklagte betrachtet, als ob er die Klage zugestanden
habe, wird der eingesetzte Erbe im Falle der Unwürdigkeit be-
trachtet, als ob er vor dem Erblasser gestorben sei."^) Allein
Vaihinger scheint den prinzipiellen Unterschied zu übersehen,
der hier zwischen den Gedankengängen der Mathematik und den
Formulierungen des Gesetzgebers besteht: Gewiß, in beiden Fällen
soll ein Fall unter ein Allgemeines ■ — hier eine Norm, dort ein
Begriff — subsumiert werden, das nicht allgemein, nicht weit
genug ist, um das Einzelne zu begreifen. Was aber macht der
Gesetzgeber.? Er erweitert einfach die Norm, er dehnt sie
— ohne jede Fiktion, ohne jeden Widerspruch zur Wirklichkeit —
auf den neuen Fall aus. Der neue Fall verhält sich zur erweiterten
Norm nicht anders, als jeder Fall zu der ihn regelnden Norm.
Das gewünschte Verhältnis ist hergestellt, es ist — für das Gebiet
des Rechtes — nicht ein ,,in Wirklichkeit nicht herzustellendes",
es ist in der ,, Wirklichkeit" des Gesetzes hergestellt. Die Mathe-
^) a. a. o. S. 70.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 643
matik behauptet, im Widerspruch zu ihrer Wirkhchkeit, allerdings :
Der Kreis ist eine Ellipse, die iNJumme ist gerad. Allein das
Gesetz behauptet nicht — es behauptet ja überhaupt nichts • —
der Adoptivsohn ist ein wirklicher Sohn, der nicht erschienene
Beklagte hat die Klage zugestanden, der unwürdige Erbe ist vor
dem Erblasser gestorben. Sondern es , .behauptet", d. h. es be-
stimmt — und diese Bestimmung steht zu nichts in einem Wider-
spruch — , daß für den Adoptivsohn dieselben Normen gelten
sollen wie für den wirklichen — so wie es bestimmt, daß gewisse
Normen für Männer und Frauen ohne Rücksicht auf den Geschlechts -
unterschied gelten sollen — und es bestimmt, daß das Nicht-
erscheinen des Beklagten dieselben Rechtsfolgen haben soll, wie
das Zugeständnis der KJage usw.
Ebenso liegt keine eigentliche Fiktion in dem von Vai hinger
allerdings als Beispiel für eine solche herangezogenen Grundsatz
des englichsen Rechts: The king can do no wrong.^) Der König
kann ,, wirklich" kein Unrecht tun, wenn die Rechtsnorm ihre
Geltung ihm gegenüber zurückzieht. ,, Unrecht" ist ja keine
Naturtatsache. Ein Tatbestand ist ,, Unrecht" nur durch sein
Verhältnis zur Rechtsordnung, dadurch, daß er als Inhalt einer
verbietenden Rechtsnorm bzw. als Bedingung in eine Strafe oder
Exekution anordnende Rechtsnorm aufgenommen ist. W^enn die
Rechtsordnung Handlungen oder Unterlassungen des Königs nicht
verbietet, bzw. nicht zu Bedingungen füt Strafe und Exekution
macht, gibt es kein Unrecht des Königs. Der dem englischen
Rechtsgrundsatz analoge Rechtssatz der österreichischen und
deutschen Verfassung: Der Monarch ist unverantwortlich, schafft
eben jene Rechtswirklichkeit, zu der allein der die juristische
Fiktion begründende Widerspruch einsetzen könne. Der Irrtum,
daß Unrecht eine Naturtatsache sei, daß ein Mord Unrecht sei,
auch wenn er nicht vom Recht verboten bzw. mit Strafe be-
droht ist, erzeugt die Meinung, daß die erwähnten, die Geltung
der Rechtsordnung nach bestimmter Richtung einschränkenden
Rechtssätze Fiktionen seien, weil sie in einen Widerspruch zur
Wirklichkeit geraten könnten.
Vaihinger scheint ja die Differenz, die zwischen der ,, Fik-
tion" des Gesetzgebers und der mathematischen Fiktion besteht,
empfunden zu haben. Er hat sich diesen Unterschied dadurch
1) a. a. 0. S. 697.
41
*
C^i4 Hans Kelsen:
verdunkelt, daß er zwar der mathematischen Erkenntnis richtig
die Rechtswissenschaft gegenüber gestellt hat, dar.n iber doch
ein Gebilde des Gesetzgebers, nicht der Rechtswissenschaft, be-
handelt. Er sagt: ,,Die Rechtswissenschaft hat es bei ihren Fik-
tionen indessen viel leichter als die Mathematik: Dort sind Fällr.
denen willkürliche Gesetzesbestimmungen gegenüberstehen; da ist
also eine Übertragung leicht möglich. Man denkt sich die Sache
eben einfach so, als ob sie so wäre." Allein hier handelt es sich
gar nicht um eine ,, Übertragung", der Gesetzgeber — und mit
ihm der Rechtsanwender — ■ ,, denkt" sich nicht die Sache so,
als ob sie irgendwie wäre, sondern er regelt sie so, wie er es
wünscht. Dadurch wird die ,, Sache" wirklich, d. h. rechtswirklich,
so. Der Gesetzgeber ist — in seinem Reiche — allmächtig, weil
seine Funktion in nichts anderem besteht, als Rechtsfolgen an
Tatbestände anzuknüpfen. Eine Fiktion des Gesetzes wäre etwa
eberxÄO unmöglich, wie eine Fiktion der Natur. Das Gesetz könnte
ja nur zu sich selbst — d. h. zu seiner eigenen Wirklichkeit —
in Widerspruch geraten. Das aber ist sinnlos.
Der mit der Fiktion gesetzte Widerspruch kann bei den Fik-
tionen der Rechtswissenschaft (die von den als ,, Fiktionen" be-
zeichneten Abbreviaturen der Gesetzessprache zu unterscheiden
sind) zunächst nur gegenüber der Rechtsordnung, dem Rechte
als dem Gegenstande und somit der ,, Wirklichkeit" der Rechts-
wissenschaft, in die Erscheinung treten. Das von der Rechtswissen-
schaft konstituierte Gebilde, ihr Hilfsbegriff, muß, in ein Urteil
aufgelöst, eine Behauptung enthalten, die der Rechtsordnung
widerspricht, aus der Rechtsordnung sich nicht ableiten läßt.
Ein solcher Fall wurde ja oben an dem Begriffe der Person exem-
plifiziert. Ein Widerspruch zur Rechtsordnung ist natürlich bei
den Fiktionen des Gesetzgebers ausgeschlossen oder nur ein für
oberflächliche, an den Worten haftende Betrachtung entstehender
Schein.
Daß Vaihinger bei seinen juristischen Fiktionen auch an
diesen Widerspruch zur Rechtsordnung gedacht hat, das beweist
sein Beispiel der prätorischen Fiktionen des römischen Rechtes.
Er zitiert die Realcnzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft
vonPauly, III, S. 473: ,,Fictio nannten die Römer eine durch das
prätorianische Recht geschaffene Erleichterung einer Rechts-
umgehung, welche darin besteht, daß etwas, was das strenge
Rcclit fordert, unter gewissen Umständen als geschehen oder vor-
Zur Theorie der juristischen P'iktionen. 645
handen angenommen werden soll, wenn es auch nicht geschehen
oder vorhanden ist. „Dadurch treten gewisse rechtliche Wirkungen
ein, auch wenn die vorausgesetzten Verhältnisse nicht so statt-
finden, wie es das Gesetz vorschreibt." Und Vaihinger bemerkt
hierzu: ,, Diese Erklärung paßt mutatis mutandis vollständig
auf die wissenschaftliche Fiktion im engeren Sinne; auch
hier findet eine Erleichterung und Umgehung der Schwierigkeit
statt, welche aber auch hier wie dort Folge der verwickehen Ver-
hältnisse ist : Auch hier wird eine Forderung des strengen Rechtes
der Logik umgangen und auch hier treten Konsequenzen, prak-
tische Folgerungen ein, welche stimmen, obwohl das Voraus-
gesetzte selbst falsch ist." Allein weder ist die Paulysche
Charakterisierung der ,,fictio", noch sind die daraus gezogenen
Schlüsse Vaihingers ganz richtig. Diese letzteren stehen und
fallen mit der Tatsache, daß die prätorianische Fiktion eine ,, Rechts-
umgehung" ist, daß sie einen Widerspruch zu demjenigen setzt,
was das Gesetz vorschreibt. Dies ist jedoch deshalb nicht der
Fall, weil der Prätor selbst gesetzgebendes Organ ist, weil er
— und zwar verfassungsgemäß — das Recht nicht bloß an-
wendet, sondern auch selbst Rechtsnormen statuiert. Wenn der
Prätor einem peregrinus gestattet, eine Klage, die nach dem jus
strictum nur ein civis erheben kann, so anzustellen, als ob er
ein civis wäre, so bedeutet das nichts anderes, als : die Statuierung
eines Rechtssatzes, in dem gewisse Rechte und Pflichten des
civis auf den peregrinus ausgedehnt werden, so kann diese Rechts-
norm ohne jedes ,,Als Ob" und ohne jede Fiktion formuliert
werden: Der peregrinus darf dieselbe Klage anstellen, wie der
civis. Die ,, Konsequenzen und praktischen Forderungen", die
hier eintreten, ,, stimmen" nicht, obwohl das Vorausgesetzte
selbst falsch ist, sondern weil auch das Vorausgesetzte ,, richtig",
d. h. rechtmäßig, dem neuen, vom Prätor geschaffenen Rechts-
satz gemäß ist. Der Irrtum, der hier unterläuft, besteht darin,
daß das strikte jus civile als der einzige Bestandteil der Rechts-
ordnung vorausgesetzt wird, als ob nicht auch das prätorische
Recht — als vollwertiges objektives Recht — dazu gehörte. Die
Klagerhebung durch den peregrinus kann der Rechtsordnung
nicht widersprechen, denn sie beruht auf einem Satze derselben!
Allerdings unterläuft dabei dennoch eine Fiktion: Die nämlich,
daß der Prätor nicht Recht setzt, sondern Recht anwendet.
Als bloßer Anwender des jus civile müßte der Prätor, der einem
646
Hans Kelsen:
percgrinus eine Klage gewährt, die nur dem civis zusteht, einen
Widerspruch zu dem die Rechtsordnung allein darstellenden jus
civile setzen. Und dieser in der Rechtsanwendung vollzogene
Widerspruch zur Rechtsordnung müßte sich in einer Fiktion ver-
stecken. Diese Fiktion besteht jedoch nicht in der Behauptung:
Der peregrinus sei ein civis, sondern in der Behauptung: Die Rechts-
ordnung gewähre auch dem peregrinus eine Klage. Der Prätor
leugnet keineswegs den Unterschied zwischen civis und peregrinus
überhaupt. Er leugnet ihn nur — sofern er sich als Rechtsanwender
darstellt — nach der speziellen Richtung der Klageberechtigung.
D. h. er behauptet: auch der peregrinus ist klageberechtigt. Allein
diese Fiktion wird in demselben Augenblicke überflüssig, ja un-
möglich, wo jene andere Fiktion wegfällt, die den Prätor als bloßen
Rechtsanwender — und nicht als delegierten Gesetzgeber ■ — gelten
läßt.
111.
Schon aus dem eben Gesagten ergibt sich, daß in bezug auf
die Möglichkeit einer Fiktion ■ — die von der Möglichkeit eines
Widerspruches zu der Rechtsordnung abhängt — die Rechts-
anwendung sich von der Rechtssetzung unterscheidet. Der Rechts-
anwender befindet sich den Rechtsnormen gegenüber tatsächlich
in einer ganz ähnlichen Situation, wie das mathematische Denken
gegenüber den Begriffen des Kreises, der Ellipse, der Krummen,
der Geraden usw. Der Richter, der Geschäftsmann, kann die
Normen nicht willkürlich ausdehnen oder einschränken, mit anderen
Worten: er kann nicht an beliebige Tatbestände beliebige Rechts-
folgen knüpfen. Wünscht er also einen Tatbestand unter eine
Rechtsnorm zu subsumieren, die diesen Fall nicht umfaßt, dann
ist allerdings die Fiktion nahegelegt : Den Fall so zu betrachten,
als ob er unter die Rechtsnorm fiele. Bedroht das Gesetz die
Beschädigung des Staatstelegraphen mit Strafe, läßt es aber die
'gleiche Beschädigung des Staatstelephons unbestraft, oder setzt
es auf dieses Delikt eine — nach Ansicht des Rechtsanwenders —
zu milde Strafe, dann bedeutet es eine Fiktion, wenn der Richter
über den Telephonbeschädiger Strafe verhängt, die das Gesetz
dem Telegraphenzerstörer zugedacht hat, indem er die den Tele-
graphen schützende Norm zum Schutze des Telephons verwendet;
nicht als ob Telegraph und Telephon dasselbe wäre, das behauptet
ja der Richter nicht und will es nicht behaupten, sondern als ob
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 647
(las Gesetz den jTelephünbcschädiger mit derselben Straft- be-
drohte wie den Tclegraphenbeschädiger. Die juristische Fiktion
kann nur eine fiktive Rechtsbehauptung, nicht eine fiktive
Tatsachenbehauptung sein. Daß ein Telephon und nicht ein
Telegraph beschädigt wurde, muß der Richter ausdrücklich fest-
stellen und darf es nicht ignorieren. Seine im Widerspruch zur
Rechtsordnung, nicht zur Naturwirklichkeit oder Pliysik stehende
Behauptung lautet: Auch das Staatstelephon darf nicht be-
schädigt werden. Diese Behauptung einer — nicht geltenden —
generellen Norm ist das Mittel, um zu dem konkreten, von ihm
gewünschten Urteil zu gelangen. Nicht aber die Behauptung:
Das Telephon ist ein Telegraph.
Daß die Rechts anwen düng Fiktionen aufweisen kann, hängt
damit zusammen, daß sie die Rechtserkenntnis voraussetzt oder
richtiger, daß in dem zusammengesetzten Akt der Rechtsanwendung
auch ein Stück Rechtserkenntnis steckt. Indes muß fraglich
bleiben, ob diese Fiktionen der Reehtsanwendung — sie sind
identisch mit den Fällen der Interpretation durch Analogie —
auch darin den erkenntnistheoretischen Fiktionen gleichen, daß
sie wie diese — wenn auch durch eine bewußt falsche Vorstellung —
zu einem richtigen Ergebnis gelangen. Denn die ,, Richtigkeit"
der Rechtsanwendung kann offenbar nur ihre Rechtmäßigkeit,
nicht aber ihre Nützlichkeit sein. Es ist ein mathematisch
richtiges Resultat, zu dem die Fiktion fülirt, daß die Krumme
nur eine Gerade sei. Es müßte ein rechtlich richtiges, also
ein rechtmäßiges Ergebnis sein, das im Wege einer analo-
gisch-fiktiven Interpretation gewonnen wird. Allein die Recht-
mäßigkeit dieses Ergebnisses kann nur an der Rechtsordnung
gemessen werden, der Widerspruch zur Rechtsordnung ist aber
bei der fiktiv-analogischen Rechtsanwendung nicht ein bloß pro-
visorischer, korrigierbarer, sondern ein definitiver, der im weiteren
Verlaufe nicht korrigiert werden kann. Nun betont Vaihinger
als ein Hauptmerkmal der Fiktion, ,,daß diese (fiktiven) Begriffe
sei es historisch wegfallen, sei es logisch wieder ausfallen". ,,Ist
ein Widerspruch gegen die Wirklichkeit da, so kann die Fiktion
eben nur Wert haben, wenn sie provisorisch gebraucht ist . . ."
Und speziell von den Semif iktionen : ,, Darum muß auch . . . eine
Korrektur eintreten; denn ohne eine solche wären sie ja nicht
anwendbar auf die Wirklichkeit."^) Von den juristischen Fik-
1) a. a. O. S. 172/73. '
548 Hans Kelsen:
lionen behauptet er jedoch, wie bereits früher bemerkt, daß eine
solclie Korrektur nicht nötig sei. Denn hier handele es sich ja
nicht um exakte Berechnung der WirkHchkeiten, sondern um
Subsumtion unter ein willkürHches Gesetz, ein Menschenwerk,
kein Naturgesetz, kein Naturverhältnis. ^) Allein damit ist die
Cberflüssigkeit einer Korrektur bei der juristischen Fiktion der
Rechtsanwendung nicht erwiesen! Denn es handelt sich wohl
bei der geistigen Tätigkeit, die sich juristischer F'iktioncn (Fik-
tionen des Gesetzgebers und der Rechtsanw^endung) bedient, nicht
um Berechnung der Wirklichkeit. Das könnte aber nur die
Konsequenz haben, daß zu einem Widerspruch zur Wirklichkeit,
und damit zu einer erkenntnistheoretischen Fiktion im Sinne
Vaihingers überhaupt kein Anlaß ist. Soweit erkenntnistheo-
retische Fiktionen als ,, juristische" Fiktionen möglich sind, können
es nur Fiktionen der Rechtserkenntnis sein. Und bei diesen richtet
sich der das Wesen der Fiktion konstituierende Widerspruch gegen
die Rechtsordnung, die die ,, Wirklichkeit", der Erkenntnisgegen-
stand der Rechtswissenschaft ist. Dieser Widerspruch aber
bedarf, wie oben ausgeführt, aus denselben Gründen einer Kor-
rektur, wie der ihm analoge Widerspruch bei den physikalischen,
mathematischen und sonstigen naturwissenschaftlichen (im weite-
sten Sinne), denn ohne eine solche Korrektur wäre die juristische
Fiktion ebensowenig auf die Rechtsordnung, d. i. die Wirklich-
keit der juristischen Erkenntnis, wie die anderen Fiktionen auf
die Wirklichkeit der Natur anwendbar. Die Fiktion der Rechts-
anwendung aber — d. i. die analogische Interpretation — setzt
einen unaufhebbaren Widerspruch zur Rechtsordnung. Sie ist
kein Umweg, der schließlich doch zur ,, Wirklichkeit" des Rechtes,
sondern ein Abweg, der vielleicht zu demjenigen führt, was der
Fingierende für nützlich und zweckmäßig hält, niemals aber zum
Gegenstand der Rechtswissenschaft: dem Recht. Aus diesem
Grunde muß eine Rechtfertigung dieser Art von juristischer
Fiktion, der Fiktion der Rechtsanwendung, theoretisch für un-
möglich erklärt werden. Dies ist mit besonderem Nachdruck
angesichts der Tatsache zu betonen, daß Vaihinger gerade diese
juristische Fiktion als eine gleichartige und gleichberechtigte
Erscheinung in sein System und seine Theorie der Fiktionen ein-
bezogen hat, die ja im großen und ganzen eine Apologie der Fik-
tionen sein will.
') a. a. o. s. 107.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 640
Allerdings muß darauf Bedacht genommen werden, daß eine
derartig unzulässige Fiktion tatsächlich nur dann vorliegt, wenn
ein unleugbarer und unbehebbarer Widerspruch zur Rechtsordnung
gesetzt würde. Dies ist in allen jenen Fällen der analogischen
Rechtsanwendung nicht der Fall, wo die Rechtsordnung die
Analogie unter gewissen Bedingungen zuläßt, ja anordnet. Ob
dies in einem Gesetzesrechtssatz ausdrücklich normiert ist, wie
etwa im § 7 des österreichischen bürgerlichen Gesetzbuches, oder
ob man sich dabei nur auf eine Gewohnheitsrechtsnorm oder
— im Falle man nicht auf positivistischer Basis steht — auf
einen natürlichen Rechtsgrundsatz beruft, ist gleichgültig, denn
ein Widerspruch zur Rechtsordnung — und damit eine Fiktion
ist ausgeschlossen, sobald die Rechtsordnung selbst die An-
wendung der Analogie und sohin die mit Hilfe der Analogie
getroffene Entscheidung anordnet. Man vergesse auch nicht,
daß jeder Jurist, der die Analogie für zulässig erklärt, nie und
nimmer darauf verzichten wird, die mittels analogischer Inter-
pretation gewonnene Entscheidung als Recht gelten zu lassen.
Das heißt aber: Der Satz, der die Analogie fordert, muß als
Rechtssatz behauptet werden. Der Nachweis eines solchen
Rechtssatzes ist natürlich eine andere Frage. Rechts theoretisch
ist somit eine Fiktion des Gesetzgebers unmöglich, eine Fiktion
des Rechtsan Wenders gänzHch unzulässig, weil rechtszweck-
widrig.
IV.
Zum Nachweis, daß Fiktionen der Rechtsanwendung gar
nicht in das Vaihingersche System der Fiktionen hineingehören,
sei schließlich festgestellt, daß die Rechtserkenntnis — die allein
zu einer echten Fiktion führen kann — bei der Rechtsanwendung
eine untergeordnete Rolle spielt. Sie ist nicht das Wesen, der
eigentliche Sinn und Zweck dieser Tätigkeit, sondern nur ihr
Mittel. Der Rechtsanwendung kommt es fast ebenso wie der
Rechtssetzung nicht eigentlich auf die Erkenntnis des Rechts,
sondern auf dessen Verwirklichung, auf Willenshandlungen,
an. Die Rechtserkenntnis, die Theorie des Rechts, bereitet
die Praxis des Rechtes nur vor, schafft ihr das Handwerkszeug.
Nun hat Vaihinger wohl selbst zwischen Rechts theorie
und Rechtspraxis unterschieden.*) Allein er hat den prinzipiellen
1) Vgl. a. a. 0. S. 257.
650
Hans Kelsen:
Unterschied übersehen, der zwischen den echten erkenntnistheo-
retischen Fiktionen der Rechtswissenschaft und den JPseudo-
fiktionen der Rechtspraxis besteht. Vor allem aber hat Vai-
hinger fast ausschließlich die sogenannten „Fiktionen" der Rechts-
praxis behandelt. Doch finden sich immerhin bei ihm auch rechts -
theoretische Fiktionen. Leider meist nur mit einem Schlagvsort
angedeutet und ohne Analyse dieser Gebilde. So die Fiktion der
juristischen Person im allgemeinen und der Staatsperson im be^
sonderen.^) Keine rechtstheoretischen, sondern ethische Fiktionen
sind die Fiktionen der ,, Freiheit" und die des ,, Staatsvertrages",
die Vaihinger zur Begründung des staatlichen Straf rechtes für
notwendig hält. Das ,, Recht" des Staates, zu strafen, bedarf einer
moralischen, keiner juristischen Rechtfertigung; und die Freiheit
des Willens als Grund dieses Rechtes ist keine notwendige
ethische Fiktion. Denn die auch von Vaihinger angeführte General -
Prävention ist eine Begründung der Strafe, die ohne jede Freiheits-
fiktion zu Recht besteht. Die ,, Fiktion" der Freiheit entsteht
sicherlich nur durch die irrige Anwendung der normativen Kate-
gorie auf die — kausal determinierte — Naturwirklichkeit, durch
einen unzulässigen und für den Bereich juristischer Erkenntnis
zumindest überflüssigen Synkretismus von Sein und Sollen. Der
Mensch handelt oder wird in bestimmter Weise handeln (Seins-
betrachtung), nur wenn er so handeln kann, bzw. muß. Das
Urteil, das ein Handeln als (zukünftig) seiend behauptet, ob-
gleich dieses Handeln als unmöglich erkannt ist, setzt einen Wider-
spruch zu eben jenem Objekt, das mit diesem Urteil erfaßt werden
soll: zur Wirklichkeit; ist somit unzulässig und wertlos. Das
Urteil: der Mensch soll in bestimmter Weise handeln, setzt auch
dann keinen Widerspruch — weder zur Wirklichkeit, noch zu
sonst einem Erkenntnisobjekt — wenn die gesollte Handlung
als seiende unmöglich erscheint. Nur wenn man den Unterschied
von Sein und Sollen (als zweier verschiedener Erkenntnisformen)
ignoriert und die Seinsmöglichkeit für eine Bedingung der
Sollurteile hält, entsteht der Schein, als ob z\s'ischen dem Satze,
der einen Inhalt als gesollt setzt, und dem Satze, der die Un-
möglichkeit dieses Inhalts in der Seinsform behauptet, ein Wider-
spruch besteht; entsteht der Irrtum: Der Inhalt (die gesollte
Handlung) müsse als sei ns -möglich, der handelnde Mensch somit
') a. a. O. S. 259.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. ' 65 1
als frei fingiert werden, damit das Sollurteil und mit ihm die
Pflicht zu handeln und eventuell anders zu handeln, als man
wirklich handelt, handeln muß und kann, möglich sei. Ein metho-
discher Fehler führt zu der Fiktion der Freiheit, die mit Erkenntnis
dieses Fehlers überflüssig wird. Nur so ist es zu erklären, daß
der Widerspruch zwischen der Freiheit der Ethik. und Jurisprudenz
und der Unfreiheit der Naturwissenschaft überhaupt möglich wurde
und von beiden Seiten ignoriert werden konnte. Die ethische
Fiktion der Freiheit ist somit nur insolange nützlich und notwendig,
als es an der nötigen methodischen Einsicht fehlt. Und insofern
paßt auf sie Vaihingers zweites Hauptmerkmal der Fiktion:
.,Ist ein Widerspruch gegen die Wirklichkeit da, so kann die
Fiktion eben nur Wert haben, wenn sie provisorisch gebraucht
wird. Bis die Erfahrungen bereichert sind, oder bis die Denk-
methoden so geschärft sind, daß jene provisorischen Methoden
durch definitive ersetzt werden können."^)
Die Fiktion des Staatsvertrages charakterisiert Vaihingcr
nicht ganz richtig, wenn er behauptet: ,,Der Staat will sein fak-
tisch ausgeübtes Strafrecht nicht auf die Macht gründen, auch
nicht bloß utilitaristisch, sondern als wirkliches Recht nachweisen :
Das ist aber nur möglich durch Fiktion eines Vertrages: Denn
andere Rechte als aus Verträgen hervorgegangene kennt der Jurist
nicht." Die Fiktion des Staatsvertrages dient wie die der Freiheit
nicht eigentlich zur juristischen Rechtfertigung der staatlichen
Straf- und Zwangsfunktion. Eine solche bedeutete ja nur: Be-
gründung auf einen Rechtssatz. Es gilt vielmehr, den Rechtssatz,
das heißt ja nichts anderes als die zwangsanordnende Norm selbst
zu begründen. Diese Begründung erfolgt durch eine höhere außer-
rechtliche Norm: Das moralische oder ,, natürliche" Grundprinzip:
Pacta sunt servanda. Darum muß ein Vertrag fingiert werden,
nicht aber, weil der Jurist angeblich keine anderen Rechte kennt,
als solche, die aus Verträgen hervorgegangen sind. Das ist überdies
ein tatsächlicher Irrtum. Der Vertrag ist nur einer der vielen
Tatbestände, an die die Rechtsordnung Rechte und Pflichten knüpft.
Der Staatsvertrag ist somit eigentlich keine rechtstheoretische,
sondern eine ethische Fiktion, die Fiktion einer moralischen Welt-
anschauung. Eine rechtstheoretische Betrachtung muß gerade diese
Fiktion — mit der Vorstellung einer sittlichen Begründung des
Rechts — fallen lassen.
1) a. a. 0. S. 17.
652
Hans Kelseii :
Eine Rechtswissenschaft — als Erkenntnis eines besonderen
Objektes — ist nämlich überhaupt nur möglich, wenn man von
der Anschauung einer Souveränität des Rechtes (oder, was das-
selbe ist, des Staates) ausgeht, d h. wenn man die Rechtsordnung
als ein selbständiges und daher von keiner höheren Ordnung ab-
geleitetes Normensystem erkennt. Andernfalls kann es nur eine
Moralwissenschaft (Ethik) oder Theologie geben, je nachdem man
das Recht als Ausfluß der Moral oder der Religion gelten läßt.
(Von einer Naturwissenschaft oder Soziologie des Rechtes, die
natürlich auch keine Rechtswissenschaft wäre, braucht hier nicht
die Rede zu sein, solange das Recht als Ordnung, als Normen -
komplex aufgefaßt wird.) Nun erblickt Vaihinger gerade in
dieser Isolierung des Rechtes von der Moral eine Fiktion. Die
,, fiktive Isolierung", die bei der positivistischen (d. h. das Recht
als selbständige, souveräne Ordnung voraussetzenden) Betrachtung
unterlaufe, sei ,,das vorläufige Abgehen von einem integrierenden
Teile der Wirklichkeit". i) Für den Gesetzgeber und Juristen
sei die Trennung von Recht und Moral als von zwei auseinander-
fallenden Kreisen von hohem Werte, nur dürfe dabei nicht ver-
gessen werden, daß hier wiederum das ,,daß" durch ein ,,Als Ob"
zu ersetzen sei. ,,Denn man mag das Verhältnis jener beiden
wichtigen Lebensgebiete näher formulieren, wie man will, so kann
sich dabei nimmermehr die Meinung geltend machen, daß beides
faktisch nichts miteinander zu schaffen habe. Es :st diese Be-
merkung darum von W'ichtigkeit, weil aus Mangel an methodo-
logischer Einsicht der Fall nicht selten ist, daß Juristen jene
Fiktion für das wirkliche Verhältnis halten, ein verhängnisvoller
und schwerer Irrtum. Die einseitige Betrachtungsweise kann der
Jurisprudenz und selbst dem praktischen Rechtsleben gute Dienste
leisten, aber es wird sich immer bald der Punkt geltend machen,
wo an Stelle der vorläufig gemachten einseitigen Abstraktion
wieder die volle Wirklichkeit in ihre Rechte eingesetzt zu werden
vermag." 2) Allein dieser Auffassung kann — gerade vom Stand-
punkte der Vaihingcrschen Fiktionentheorie — nicht beigepflichtet
werden. Denn in der Behauptung, das Recht sei ein von der Moral
unabhängiges — in seiner Sollgeltung nicht auf die sittliche Ordnung
') a. a. O. S. 375-
2) a. a. O. S. 375.
Zur Theorie der juristischen Fiktionen. 65 >
rückführbares Normensystem, kann schon darum auch kein „vor-
läufiges" Abgehen von einem integrierenden Teik» der Wirklichkeit
liegen, weil weder das Recht noch die Moral — beide als Normen-
komplexe gedacht — in der Welt jener Wirklichkeit stehen, die
Vaihinger als die Linie gilt, von der die Fiktion abweicht, und
die mit der Natur, der Sinnenwelt, identisch ist; und weil weder
Rechtswissenschaft noch Ethik in ihren Objekten jene Wirklichkeit
zu fassen suchen. Das Verhältnis zwischen Recht und Moral ist
überhaupt nicht ein Verhältnis zwischen zwei ,,LebensgebJeten",
als zwischen zwei Stücken der natürlichen Realität. Das ,, wirk-
liche" Verhältnis zwischen ihnen ist kein Verhältnis in der Wirk-
lichkeit, d. h. der von der Naturwissenschaft im weitesten — auch
eine Gesellschaftslehre umfassenden — Sinne ergreifbaren Realität.
Die juristische Betrachtung, der Vaihinger eine fiktive Isolierung
ziunutet, kann bei Feststellung des Verhältnisses ihres Objektes
zu der Moral gar nicht von einem integrierenden Teile der Wirk-
lichkeit abgehen, da sie die Wirklichkeit nicht im Auge hat. So-
fern aber Recht und Moral als — soziale — Realitäten, als ,, wirk-
liche" Vorgänge in der Natur angesehen werden (ob dies über-
haupt möglich sei, bleibe hier dahingestellt), sind sie nicht Gegen-
stand der spezifisch juristischen Erkenntnis bzw. der normativen
Ethik. Und insofern kann auch jene fiktive Isolierung gar niclit
vollzogen werden. Es ist für sie gar kein Anlaß gegeben. Für
eine auf die Wirklichkeit des sogenannten Rechtserlebnisses, die
faktischen Moralvorstellungen und durch sie bewirkten ,, mora-
lischen" Handlungen gerichtete Betrachtung — ihre methodische
Möglichkeit überhaupt zugegeben — ist Recht und Moral etwas
völhg anderes als das gleiche Wort besagt, das den Gegenstand
der normativen Rechtswissenschaft und Ethik bezeichnet. Und
für diese auf die wirklichen Seelenvorgänge und Handlungen ge-
richtete Erkenntnis dürfte sich überhaupt keine wesentliche Dif-
ferenz zwischen einer als ,, Recht" und einer als ,, Moral" be-
zeichneten Wirklichkeit, sicherlich nicht aber die Zweckmäßig-
keit einer wenn auch nur provisorisch fiktiven Isolierung beider
ergeben. Diese ,, volle Wirklichkeit" kann gegenüber einer juri-
stischen Betrachtung überhaupt nicht ,,in ihre Rechte eingesetzt
werden".
Nun erscheint aber die Vorstellung der Rechtsordnung — als
eines Komplexes von Sollnormen — ebenso wie die Vorstellung
einer Moralordnung nach Vaihinger an und für sich schon als
<554
ilans Kelsen:
eine Fiktion. Es sind die praktischen Fiktionen^), unter die die
Begriffe der Norm, der Pflicht, des Ideals usw. eingereiht werden
müßten. Wenn auch Vaihinger sich nicht in extenso mit dem
Begriff der Rechtsnorm und des rechtlichen Sollens, der Rechts-
pflicht usw. befaßt, so darf doch angenommen werden, daß von
ihnen dasselbe gelten muß wie von den ethischen Begriffen, die
als Fiktionen angesprochen werden. Man könnte im Sinne Vai-
hingers sagen: Der Jurist betrachtet das Recht so, als ob es
eine Summe von Sollnormen wäre. Allein wenn dies eine Fiktion
ist, wenn das Recht in Wirklichkeit keine Sollnorm ist, was
ist dann das Recht ,,in Wirklichkeit".'' Und weiter: Was ist
eine Sollnorm ? Mit anderen Worten : Wenn die Annahme, daß
das Recht eine Sollnorm ist, eine Fiktion sein soll, dann muß das
Recht etwas anderes, etwas ,, Wirkliches" sein können, und dann
muß auch die ,, Sollnorm" etwas ,, Wirkliches", nur etwas anderes
ais das Recht ,, wirklich ist", darf Sollnorm nicht selbst wieder
eine Fiktion sein. Denn die Fiktion besteht offenbar in einem
Vergleich, und zwar in einer falschen Gleichsetzung eines Wirk-
lichen mit einem anderen Wirklichen, In der Fiktionsformel:
X wird so betrachtet, als ob es Y wäre (obgleich X nicht Y ist),
muß sowohl X als Y etwas Wirkliches sein, bzw-. als etwas Wirk-
liches behauptet sein. Fiktiv ist lediglich die Gleichsetzung. Bei
Vaihinger heißt es von der Fiktionsformel wörtlich: ,, Demnach
wird in dieser Formel ausgesprochen, daß das gegebene Wirk-
liche, daß ein Einzelnes verglichen wurde mit einem anderen,
dessen Unmöglichkeit oder Unwirklichkeit zugleich ausgesprochen
wird ... z. B. in der juristischen Fiktion lautet die Formel so:
Dieser Erbe ist so zu behandeln, wie er zu behandeln wäre, wenn
er vor seinem Vater, dem Erblasser, gestorben wäre, d. h. er ist
zu enterben." Worauf es hier ankommt, ist lediglich die Fest-
.stellung, daß sowohl ,,der Erbe" als auch ,,ein vor dem Erblasser
Gestorbener" an und für sich, d. h. ohne Rücksicht auf die Stellung
(lieser Elemente in der fiktiven Beziehung — etwas Wirkliches
bedeuten. Vaihinger führt auch aus: ,,Es wird also hier zu-
nächst eine Vergleich ung ausgesprochen, d. h. die Aufforderung,
eine vergleichende oder subsumierende Apperzeption zu vollziehen;
ein solcher Satz sagt zunächst nichts anderes, als z. B. der Satz:
D;T Mensch ist wie ein Gorilla zu betrachten, und warum .? weil
») a.a. S. 59ff.
Zur Theorie: der juristischen Fiktionen. 655
11- eben ihm ähnlich ist. Ebenso in allen jenen Fällen: Es wird
die Aufforderung zu einer vergleichenden Apperzeption ausge-
sprochen, allein zugleich mit dieser Aufforderung wird nun in
diesem Falle ausgesprochen, daß diese Vergleichung auf einer
unmöglichen Bedingung beruht; anstatt sie aber nun zu
unterlassen, wird sie aus anderen Gründen doch vollzogen. "i)
Die Fiktion besteht in der Durchführung eines Vergleiches zweier
Wirklichkeiten, trotz der Unmöglichkeit dieses Vergleiches.
Nun ist aber das Recht von vornherein überhaupt nichts
Wirkliches. Es gibt' kein Stück der NaturAvirklichkeit, das als
Recht angesprochen werden kann. Aber selbst wenn man davon
ubsähc: Das Recht wird betrachtet, als ob es eine Sollnorm wäre,
ja aber was ist denn eine Sollnorm.? Nichts Wirkliches, sondern
selbst eine Fiktion, die Fiktion besteht hier nicht nur in dem
,,.'ys-Ob"-Vergleiche, sondern auch in demjenigen, womit das
Recht fiktiv verglichen wird. Die Fiktion, das fiktive Urteil,
behauptet aber — in dem mit als ob eingeleiteten Satze — eine
Wirklichkeit (wenn auch im Widerspruch zu dieser). Die Ana-
lyse der Fiktion muß zu — allerdings falsch verknüpften — Wirk-
lichkeitselementen führen, die Fiktion muß sich auflösen lassen,
sonst hängt sie überhaupt in der Luft.
Darum will es scheinen, als ob auf das, was Vai hinger die
,, praktischen Fiktionen" nennt, die von ihm selbst aufgestellten
Merkmale des Fiktionsbegriffes nicht recht passen. Im Grunde
mußte Vaihinger alle ethischen Begriffe als Fiktionen erklären.
Er tut es ausdrücklich bei den Begriffen: sittliche Weltordnung,
Pflicht, Ideal und einigen anderen. Allein bei allen diesen Be-
griffen muß notwendig gerade jenes Element fehlen, das nach
Vaihinger der Fiktion wesentHch ist: Der Widerspruch zur Wirk-
lichkeit. Denn ein Widerspruch zur Wirklichkeit kann nur vor-
liegen, wenn ein Wirkliches behauptet wird, überhaupt erkannt
werden soll. Vaihinger sagt: ,,Das Ideal ist eine in sich wider-
spruchsvolle und mit der Wirklichkeit im Widerspruch stehende
Begriffsbildung,, welche aber ungeheuren, weltüber^ändenden Wert
hat. Das Ideal ist eine praktische Fiktion. "2) Das kann von
jedem ethischen und juristischen Begriff gelten. Denn es gilt
von dem Begriff des Sollens, der ja mit dem formalen Begriff
des Ideals identisch ist. Allein worin kann der Widerspruch zur
1) a. a. 0. S. 164/165.
2) a. a. O.'S. 67.
656
Hans Kelseu:
Wirklichkeit bestehen, der in irgendeinem Sollsatze, selbst in
jenem vollzogen wird, der Unmögliches zum Inhalt hat ? Der
das Ideal, die Pflicht, die sittliche Forderung aussprechende Satz:
Der A. soll wohltätig sein, und der die Wirklichkeit beschreibende
Satz: Der A. ist nicht wohltätig, widersprechen sich in keiner
Weise. Auch wenn man zugibt • — und man muß dies zugeben ■ — ,
alles, was geschieht, muß so geschehen, wie es geschieht, und
kann nicht anders geschehen, so daß jedes Sollen, das einen
anderen Inhalt hat als das Sein, Unmögliches fordert, so ist
damit dennoch keinerlei Widerspruch zwischen Sein und Sollen
dgegeben. Dem Sein von a widerspricht lediglich das Sein von
7ion a, nicht aber das Sollen von non a. Es wäre denn, man löste
den Sollsatz in einen Als -Ob- Seinsatz auf, und behauptete: Indem
ich a als gesollt behaupte, tue ich so, als ob a seiend wäre. Wenn
ich behaupte : X. soll wohltätig sein, fingiere ich X. (in Gedanken)
als wirklich wohltätig, obgleich er in Wirklichkeit gar nicht wohl-
tätig ist. Das Sollen sei ein fingiertes Sein. Das ist aber offen-
bar unrichtig. In der Vorstellung des Sollens steht uns eben eine
von der Vorstellung des Seins völlig verschiedene Form zur Ver-
fügung, die jeden beliebigen Inhalt aufnehmen kann, ohne zu
einer Seinsvorstellung mit kontradiktorisch entgegengesetztem In-
halt in logischen Widerspruch zu geraten. Mit demselben Rechte,
mit dem ich das Sollen ein fingiertes Sein, könnte ich das Sein
ein fingiertes Sollen nennen. Darum kann ein normativer Begriff
wohl in sich selbst w^iderspruchsvoll sein, er kann aber nie zur
Wirklichkeit in Widerspruch geraten. Denn normative Erkenntnis
ist überhaupt nicht auf das Sein gerichtet. Natürlich kann es
auch innerhalb der normativen Erkenntnis Fiktionen, d. h. Be-
griffe geben, die in einem Widerspruch zu dem spezifischen Er-
kenntnisobjekt stehen. Dieses Erkenntnisobjekt selbst und die
ganze Erkenntnistätigkeit kann aber nicht als Fiktion bezeichnet
werden. Die Begriffe ,,Gott und Gewissen" mögen Fiktionen sein.
Das ,, Sollen", die ,, Pflicht", die ,,Norm" sind es gewaß nicht.
Das zeigt sich deutlich, wenn man die ,, Fiktion'.' der Pflicht in
einem Als- Ob- Satz darzustellen versucht. Wir sollen so handeln,
als ob es unsere Pflicht wäre, so zu handeln. Aber schon in dem
ersten Satze: Wir sollen so handeln, steckt die Behauptung der
Pflicht. Wir sind verpflichtet, so zu handeln, als ob es unsere
Pflicht wäre. Pflicht und Sollen sind identisch. Bedeutet aber
der Satz: Wir sollen so handeln, eine Fiktion.? Er würde es be-
Zur Theorie der juristischen i-iktionen. Ö57
deuten, wenn damit behauptet würde: Wir handeln so, obgleich
wir nicht so handeln. Allein gerade diese Behauptung enthält
er nicht, sondern die: Wir sollen so handeln, obgleich wir viel-
leicht nicht so handeln. '
Eine andere Frage ist, ob und wie sich die in Sollsätzen auf-
gestellten Behauptungen beweisen lassen, ob nicht jedes Normen-
system letztlich auf einen unbeweisbaren Grundsollsatz aufgebaut
ist. Das kann zugegeben werden, ohne daß damit der Charakter
einer Fiktion, d. h. eines Widerspruches zur Wirklichkeit (als
der Natur-Wirklichkoit), konzediert wird.
Der Begriff des Sollcns — und mit ihm die Begriffe der Pflicht,
der Norm, des Ideals, des (objektiven) Wertes — könnten als
Fiktion bezeichnet werden, wenn nicht unter Fiktion ein Vor-
stellungsgebilde verstanden würde, das der Erkenntnis der Wirk-
lichkeit ' dient, und einen Widerspruch zu eben dieser Wirk-
lichkeit setzt. Und ,, Fiktionen" sind das Sollen — das sittliche
wie das rechtliche — nur, wenn unter Fiktionen alles verstanden
wird, was nicht Ausdruck, und zwar widerspruchsloser Ausdruck,
der Natur -Wirklichkeit ist. Wenn man Vaihinger auch zugeben
kann, daß die Rechtsnormen — so wie die ganze Welt des Sollens —
imaginative Produkte des menschlichen Geistes sind, Phantasic-
gebilde im Verhältnis zu der Sinnen-Welt des Natur-Seins^), so
ist damit noch keineswegs die Notwendigkeit eines Widerspruches
zu dieser Wirklichkeit gegeben, das erste seiner ,, Hauptmerk-
male", an denen ,,man sofort jede Fiktion erkennen" kann. 2)
Gerade in der Kategorie des Sollens ist eine Form geschaffen,
in der die Phantasie ohne Widerspruch zu der Wirklichkeit des
Seins sich entfalten kann. Andererseits muß die Welt des Sollens
als ein, wenn auch anderes, so doch mit der Natur-Wirklichkeit
gleichberechtigtes Objekt der (ethischen oder juristischen) Er-
kenntnis, als eine eigene Art von Wirklichkeit gelten, wenn
es hier echte Fiktionen geben soll.
Gerade diejenigen juristischen Fiktionen (das sind die der
Gesetzgebung und Rechtsanwendung), mit Hilfe deren Vaihinger
zum großen Teile seine glänzende Theorie dargestellt hat, haben
1) a. a. 0. S. 70.
2) a. a. 0. S. 171 ff.
Annalen der Philosophie. L 4^
(',eg Hans Kelsen: Zur Theorie der juristischen Fiktionen.
sich bei näherer Betrachtung gar nicht als solche Dcnkgebildc er-
wiesen, deren Wesen und Erkenntniswert zu entdecken, das große
Verdienst Vaihingers ist. Dagegen weist die Rechtswissenschaft
andere, durchaus analoge Hilfsbegriffe auf. Doch fällt das Licht
auf diese Fiktionen nicht eigentlich aus der Rechtswissenschaft
— wie Vaihinger meint — , sondern umgekehrt: Die echten,
theoretischen Fiktionen der Rechtswissenschaft werden verständ-
lich durch die Fiktionen der Mathematik und der anderen Wissen-
schaften. Die Fiktionen der Rechtstheorie haben gar nichts spezi-
fisch Juristisches an sich, sie sind keine für die Jurisprudenz
charakteristische Methode.
terça-feira, 9 de setembro de 2008
Zur Theorie der juristischen Fiktionen.Mit besonderer Berücksichtigung von Vaihingers Philosophie des Als Ob.
Postado por Marcos Alberto de Oliveira às 00:20 0 comentários
segunda-feira, 8 de setembro de 2008
Kant — ein Metaphysiker ? HANS VAIHINGER
135
1. Es sind in der letzten Zeit mehrere Versuche gemacht worden,
gegen den Kritiker Kant den Metaphysiker Kant auszuspielen, und
damit der negativen Kritik der reinen Vernunft durch Kant — eine
wirkliche und positive Metaphysik der Vernunft von ebendemselhen
als Ergänzung, ja als Gegensatz gegenüberzustellen. Solche Ver-
suche sind schon früher, schon im vorigen Jahrhundert unternommen
worden; ja schon Reinhold's „Briefe über die Kantische Philoso-
phie" nehmen im Grunde diesen Standpunkt ein. Die FßlEs'sche
Schule, bis auf J. B. Meyer, hatte diese Tendenz. In einem anderen
Sinne haben die Freunde der SwEDENBORG'schen Theosophie Kant's
„Metaphysik" für sich in Anspruch genommen. Seitdem man vollends
auf Kant's „Vorlesungen über Metaphysik" aufmerksam geworden
ist, hat sich diese Neigung allmälig gesteigert, um nun mit einem
Male als kräftiger Strom — und zugleich als Gegenstrom gegen die
bisher herrschende Auffassung Kants in Paulsens neuem Kantbuch
an den Tag zu treten. Mit jenem schriftstellerischen Geschick, das
alle Werke Paulsens auszeichnet, hat er diese Position einge-
nommen und energisch vertreten. Und so ist die Sache zu einer
philosophischen Tagesfrage geworden. Schon oft ist in jüngster Zeit
die Frage an mich gerichtet worden , ob denn diese Darstellung
Paulsen's richtig sei? Ich mochte sie hier beantworten. Freilich —
der kna])pe Raum, der einem Beitrag zu dieser Festschrift nothwen-
digerweisc gesetzt ist, reicht nicht hin, um diese wichtige und weit-
tragende Frage auch nur halbwegs erschöpfend zu beantworten, wohl
aber reicht derselbe dazu hin, um einige Gesichtspunkte, welche für
die Beantwortung der Frage von AVichtigkeit sind, hervorzuhel)en.
2. Hören Avir zunächst Paulsen selbst. Dabei wird es zweck-
mässig sein, aus seiner allgemeinen Darstellung Kants das Nötigste
voranzuschicken. Paulsen stellt S. 381 ff. als „die grossen Grund-
gedanken'- Kants, denen er „dauernden Wertli" vindicirt, folgende
zusammen: 1) „Die Philosophie Kants hat das AVesen des AV^issens
und des Glaubens richtig erfasst". 2) „Kant gibt dem Willen die
136 H. Vaihinger:
ihm zukommende Stellung in der Welt". 3) „Kant gibt dem Geist
die richtige Bestimmung seines Wesens und die ihm zukommende
Stellung in der Welt". Der letztere Punkt kommt für uns hier
in Betracht. Paulsen erläutert ihn des Weiteren : „Kant hat
die schöpferische Kraft des Geistes zu Ehren gebracht: das Wesen
des Geistes ist Freiheit , lebendige Thätigkeit .... auf allen
Gebieten hat Kant die Aktivität und S^jontaneität des Geistes
aufgezeigt . . .". Man kann dem durchaus zustimmen, aber nicht
ohne einen wichtigen Zusatz : Gewiss, was Kant überall und immer
behauptet, das ist d i e M a c h t d e s G e i s t e s , a b e r d o c h n u r
innerhalb der i h m g e s t e c k t e n S c h r a n k e n. Dieser Zu-
satz erst gibt den ganzen Kant. Was unterschiede ihn sonst von
Leibniz oder von Hegel? Worin läge sonst die Verwandtschaft
mit Locke und Hume ? In dem so corrigirten Princip erblicke ich
die einfachste, einheitliche Formel für Kants Leben und Lehre, für
seine Erkenntnisstheorie und seine Ethik. Dies ist das Leitmotiv
seiner ganzen Philosophie : die gewaltige Macht des Geistes zu lehren,
des intellectuellen und des moralischen Geistes, aber innerhalb der
ihm einmal gesetzten Grenze n. In Allem, was Kant sagt, finde
ich immer wieder denselben Grundton: eine mächtige Ueberzeugung
von der ursprünglichen Kraft des theoretischen und des praktischen
Geistes in dem Menschen, aber begleitet von einer ebenso kräftigen
Ueberzeugung von den engen Grenzen, innerhalb deren der Geist
diese seine Macht ausüben kann.
Derselbe Satz enthält, wie eine mathematische Formel, zugleich
auch die ganze Kantische Entwicklungsgeschichte in sich. Denn die
drei Perioden derselben, welche auch Paulsen (S. 75) in Ueber-
einstimmung mit den meisten bisherigen Darstellungen unterscheidet,
ergeben sich aus derselben gewissermassen more geometrico; es sind
dies 1) die dogmatisch-rationalistische, 2) die sceptisch-empiristische,
3) die kritisch-rationalistische. In der ersten Periode glaubt Kant
mit dem Dogmatismus an eine fast unbeschränkte Macht des Geistes,
in der zweiten Periode werden von ihm die Grenzen dieser Macht,
in Uebereinstimmung mit dem Empirismus, mit derselben, nur ent-
gegengesetzt gerichteten Einseitigkeit übertrieben und erst in der
dritten Periode findet Kant das Eigenthümliche seines Kriticismus :
die Ueberzeugung von der Macht des Geistes innerhalb der ihm ge-
steckten Schranken.
AVenn Paulsen dazu S. 76 die Bemerkung macht, die Wand-
lungen in Kants Denken, die „ümkii)i)ungen", von denen dieser selbst
Kant — ein Metapliysiker? 137
redet, gehen mehr auf die Form, als auf den Inhalt und betreffen
mehr die Methode der Metaphysik, resp. die Erkenntnisstheorie, als
die Weltanschauung selbst, die Continuität in Kants Entwicklung
sei also mehr als bisher zu beachten — was übrigens auch schon
HöFPDiNG verlangt hat — , so kann auch diese Forderung an der
Hand der oben aufgestellten Formel erfüllt werden: Kant hat in
der ersten Periode mehr die Macht des Geistes betont, als seine
Schranken; in der zweiten mehr die Schranken als die Macht; in
keiner der beiden Perioden hat er nur das Eine ohne das Andere
hervorgehoben ; aber er fand das richtige Gleichgewicht der beiden
Seiten erst in der dritten: der kriticistischen Periode.
Eben darum darf man aber auch nicht nur die Eine Seite
herausgreifen, wie das Paulsen an der oben mitgeteilten Stelle thut:
gewiss hat Kant dem Sensualismus gegenüber, der den Geist nur
als „passives Gefäss" fasste, für den Geist spontane Activität vin-
diciert; oder vielmehr revindiciert : denn Kant setzt hier nur fort,
Avas Leibniz, am besten in seinen Nouveaux Essais, schon behauptete.
Aber die Erweckung aus dem „dogmatischen Schlummer" durch
HUME zeigt sich doch schliesslich darin, dass Kant die Grenzen
dieser Kraft haarscharf zu bestimmen suchte. Paulsen rückt den
Kritiker Kant viel zu nahe an den Dogmatiker Leibniz heran ; weder
Leibniz noch Kant würden damit einverstanden sein: Der Eine
würde mehr nach rechts, der andere mehr nach links wegrücken.
3. Dasselbe gilt nun auch von der Darstellung, welche Paulsen von
Kants Verhältniss zur Metaphysik gibt, sie ist das specitisch Neue,
das Charakteristische an dem PAULSEN'schen Kantbuch; sie eben
ist der Gegenstand der Controverse. Nach Paulsen ist Kants Ten-
denz — auch in der kriticistischen Periode — auf eine positive
Neubegründung der Metaphysik gerichtet gewesen: „Kant will auf-
bauen, nicht einreissen ; oder einreissen doch nur, um für den noth-
wendigen Neul)au Platz zu gewinnen. AVas er aufbauen will, ist
zweierlei: 1) eine positive Erkenntnisstheorie, nämlich eine rationa-
listische Theorie der Wissenschaften; 2) eine positive Metaphysik,
nändich eine ideahstische Weltanschauung" (S. 118). Aber anderen
Stellen Paulsens nach ist Kants allerletzte Tendenz einzig und
allein auf die idealistische Metaphysik gerichtet: „Kant sagt einmal
scherzend [in den „Träumen eines Geistersehers" u. s. w. 1766], er
habe das Schicksal in die Metaphysik verliebt zu sein, obwohl er
sich von ilir nur selten einiger Gunstbezeugungen rühmen könne.
Es ist doch mehr als blosser Sclierz, auch ist er der alten Liebe
138 H. Yaihinger:
trotz der Veriiunftkritik, immer treu geblieben .... "Wenn Kant
in der Kritik bin und wieder das Anseben des Agnostikers annimmt,
so tritt uns überall, wo er sieb unmittelbarer mit seinem persön-
licben Denken gibt, wie in den Vorlesungen und den Aufzeicbnungen
dafür, der ecbte Platoniker entgegen; und wer auf diesen nicbt
acbtet, der wird aucb den Kritiker nicbt versteben. Der transcen-
dentale Idealismus scbliesst den objectiven metaj^bysiscben Idealis-
mus nicbt aus Kants Anscbauung von der Natur des ,wirk-
licli AVirklicben' ist im Grunde zu allen Zeiten unverändert ge-
blieben : Die AVirklicbkeit an sieb ein System seiender, durcb teleo-
logiscbe Beziebungen zur Einbeit verknüpfter , Gedankenwesen', die
von dem göttlicben Intellect anscbaulicb gedacbt und eben dadurcb
als wirklieb gesetzt werden .... In der Kr. d. r. V. stebt die ne-
gative Seite, die Bekämpfung einer falscben Begründung im Vorder-
grund, bier erreicbt das Kantiscbe Denken die grösste Entfernung
von seinem Centrum; in den folgenden Scbriften . . . tritt die ,intel-
ligiljle AVeit' ... als der beberrscbende Mittelpunkt wieder aufs be-
stimmteste bervor" (A^orr. VII, VIII). Mit gesperrtem Druck ver-
kündet Paulsen S. 279 : „Das Ziel aller Bemülmngen Kants i s t
die Begründung einer wissenscbaftlicb baltbaren
M e t a p b y s i k na cb neuer M e t b o d e". Daber bat Paulsen,
entgegen allen bisberigen Darstellungen der Kantiscben Pbilo-
sopbie, seiner neuen Darstellung einen eigenen ausfübrlicben Ab-
scbnitt eingefügt (S. 237—282): Die Metapbysik Kants.
Er wiederbolt bier, besonders S. 241—244 und S. 271—274,
sowie 279 — 281 die obigen Aufstellungen; am prägnantesten in
folgender Stelle: „Nacb allem: Kant bat eine wirkliebe trans-
scendente Metapbysik. Er bält an ibr als der vernunftgemässen
AVeltanscbauung durcbaus fest ; sie ist nur nicbt , wie die Scbul-
metapbysik wollte, als a priori demonstrirbare Verstandeserkennt-
niss möglieb . . . die Vernunft . . . fübrt notbwendig über die Er-
scbeinungswelt zu einer Intellectualwelt binaus, einer AVeit seiender
Ideen, die durcb logiscb-teleologiscbe Beziebungen verknüpft und
dem göttlicben Intellect anscbaulicb gegenwärtig sind . . . Alan siebt,
das ist die PLATONisCH-LEißNiz'scbe Pbilosopbie". In diesem Sinne
beisst der Oolunmentitel von S. 239: „Kant ein Metapbysiker".
4. Kant — ein Aletapbysiker ? Kant, der „Alleszermalmer",
der A^'ernicbter der LEiBNiz'scben und aller dogmatiscben Äletapbysik,
selbst ein Verfecbter derselben? Kant also, der Kritiker der reinen
Vernunft und aller von der reinen A'^ernunft ausgedacbten metapby-
Kant — ein Metaphysiker? 139
sisclien ^) Spekulationen — sell)st doch aucli ein solcher Metaphy-
siker? Wohl hat man das auch schon früher gelegentlich gesagt,
aber doch noch niemand mit solcher Schärfe und Bestimmtheit, wie
es nun Paulsen thut: er stellt den Satz offen und nackt hin: für
Kant ist „die Wirklichkeit, wie der Verstand im Unterschied von
der Sinnlichkeit sie denkt, ein System von Monaden, die durch prä-
stabilirte Harmonie , durch influxus idealis . . . zur Einheit verknüjjft
sind; der letzte Grund der Einheit der Dinge ist ihre wurzelhafte
Einheit in Gottes Wesen .... alle diese Gedanken hat Kant nie
weggeworfen" (273). Dass Kants Dinge an sich sehr nahe Ver-
wandtschaft zeigen mit den LEiBNiz'schen Monaden, hat meines
Wissens zuerst Benno Erdmann ausgesprochen — zuerst in unserer
Zeit, denn im vorigen Jalirhundert merkte man das auch schon.
Dies vermindert nicht B.Erdmann's Verdienst, dies aufs Neue heraus-
gefunden zu hal)en. Ein Schüler B. Erdmann's, Otto Riedel, hat
eine vortreffliche Dissertation über das Thema geschrieben: „Die
monadologischen Bestiinmungen in Kants Lehre vom Ding an sich"
(Hamburg und Leipzig, L. Voss 1884. Vgl. meine Besprechung in
der Viertj. f. wissenschaftl. Philosophie IX, 128 f.).
Ich meinerseits hatte auf anderen Wegen eben dieselbe Er-
kenntniss gewonnen und sie in meiner Abhandlung „Zu Kants Wider-
legung des Idealismus" („Strassb. Abhandl. z. Philos." zum 70. Ge-
burtstage Ed. Zellers 1884) zum Ausdruck gebracht. Aber zwischen
diesen drei Darstellungen und der PAULSEN'schen Auffassung ist
ein sehr wesentlicher Unterschied. AVir sprachen von dem „monado-
logischen Hintergrund" des Kantischen- Kriticismus , wir fanden in
diesem üljerall Reste und Si)uren der monadologischen Anschauungen,
in denen Kant aufgewachsen war, Reste, welche Kant nicht ab-
streifen, Spuren, die er nicht verwischen konnte oder wollte. Aber
das, was unserer Auffassung nach den versteckten Hintergrund
des Ki-iticismus ausmacht, das System der Monaden nebst ihrem
Zusammenhalt in Gott — das ist nun nach Paulsen's Auflassung
in den Vordergrund zu stellen: es sei Kants Absic^ht gewesen,
diese idealistische Metaphysik auf seine Weise neu zu begründen,
und dariuu eben müsse auch diese ^Metaphysik Kants viel stärker
als bisher betont werden.
*) Natürlich handelt es sich nur um die Metaphysik im transoendenteu
Sinn. Von den dabei mitspielenden terminologischen l'nklarheiten bei Kant
(vgl. meinen Commentar I, 83, 88 tf., 149, 232, 311, 373 ff. 464 u. ö.) können
wir hier der Einfachheit hallier absehen.
140 H. Vaihinger :
Es geht aus dem Gesagten hervor, dass die Frage, ob Paulsen
mit Recht oder Unrecht Kant als Metaphysiker darstelle , nicht
einfach mit Ja oder Nein beantwortet werden kann. ]\Iit einem
einfachen Ja oder Nein ist ja dem Laien gewöhnlich am besten
gedient; aber wer in den Sachen zu Hause ist, weiss, dass wir uns
nicht immer mit dem einfachen Ja, ja oder Nein, nein begnügen
können : die Dinge thun uns nicht immer den Gefallen, so einfach
zu liegen. Also die fraghche Darstellung Paulsen's ist insofern
richtig, als Kant immer, auch während der ganzen Periode seines
Kriticismus, daran festgehalten hat: wir müssen uns die absolute
Wirklichkeit wie ein System geistiger Wesen denken, welche eine
geistige Einheit in Gott bilden; viele Stellen, von denen Paulsen
so ziemlich die wichtigsten angeführt hat, legen dafür Zeugniss ab.
Aber seine Darstellung ist andererseits doch nicht richtig, weil
er dasjenige, was Kant unter tausend Yerclausulirungen versteckt,
nun seinerseits ofien und nackt hinstellt. Paulsen stellt dasjenige,
was Kant nur durch einen Schleier hindurchschimmern lässt, ohne
diesen kritischen Schleier in das hellste Tageslicht. Der Schleier,
den Kant so vor dieser iutelligiblen Welt vorzieht, ist ein nothwen-
diger Bestandtheil seines kritischen Systems. Paulsex zieht den
Schleier einfach weg: in demselben Augenblick ist aber auch der
eigentliche Kriticismus Kants nicht mehr ganz da. Dass Kant jene
intelligible Welt so discret durch den Schleier zugleich verhüllt und
durch denselljen verhüllenden Schleier eben wieder hindurchschim-
mern lässt, darin eben ist das Charakteristische seines Kriticismus
zu suchen. Gewiss, wenn wir diesen Schleier von der Kantischen
Erkenntnisskritik wegziehen, so kommt Leibxizen's Monadologie zimi
Vorschein. Aber wenn wir jenen Schleier wegziehen, so haben wir
eben auch Kants eigentliche Philosoj^hie nicht mehr. Dieser die
wahre Wirklichkeit verhüllende und doch in unbestimmten Umrissen
hindurchschimmernlassende Schleier ist ein nothwendiger Bestand-
theil der Kantischen Philosophie. Paulsen hat ihn weggezogen, in
der guten Meinung, uns dadurch erst den „eigentlichen" Kant zu
zeigen. Aber er nimmt Kant damit eben sein Eigenthümlichstes, die
kritische Vorsicht und Discretion, mit der er sich über die Art,
wie das wirklich Wirkliche zu „denken" sei, äussert.
5. Allerdings — Paulsen hat es nicht versäumt, auf den Un-
terschied hinzuweisen, der zwischen der alten dogmatischen Meta-
l^hysik und Kants kritischer Metaphysik obwaltet. Schon die oben
S. 138 mitgetheilte Stelle aus der Vorrede enthält die Bemerkung,
Kant — ein Metapliysiker ? 141
dass Kant „die falsche Begründimg" der alten Dogmatiker bekämpft
habe; auf S. 238 heisst es: „die Gedanken der alten Metaphysik
hatten für ihn Ideibende Wichtigkeit und Wahrheit, Avenn auch
Wahrheit in anderem Sinne als die Wahrheiten der Physik. Man
kann vielleicht sagen, dass Kant von allen Grundanschauungen zur
Theologie, Psychologie und Physik, wie sie in den vorkritischen
Schriften vorliegen, nicht eine einzige ganz hat fallen lassen. Die
meisten finden sich, nur mit verändertem Vorzeichen, in den
kritischen Schriften wieder". Paulsen wiederholt diesen Vergleich
auf S. 273: „alle diese Gedanken [der alten ]\Ietaphysik] hat Kant
nie weggeworfen; er gibt ihnen eigentlich nur ein anderes Vor-
zeichen : nicht dem Verstände demonstrirbare Wahrheiten, wie Ma-
thematik und Physik, sondern nothwendige Ideen, welche die Ver-
nunft niemals aufhören kann und wird, aus sich hervorzubringen."
Die alte idealistische Metaphysik machte den Fehler, diese Ver-
nunftideen „den in der sinnlichen Anschauung darstellbaren Be-
grifi'en an- und einzureihen" ; Kant hat aber diese an sich berech-
tigten Gedanken „nur als vorgel)liche reine Verstandes erkenntnisse
beseitigt, um sie sogleich als nothwendige Vernunftideen zurückzu-
führen", d. h. als notwendige Ideen „der speculativen und prak-
tischen Vernunft". „Die theoretische Vernunft führt durch das ihr
innewohnende Strel)en nach dem Unl)edingten über die AVeit des
Bedingten und Relativen hinaus .... die praktische Vernunft führt
dm-ch ihr unbedingtes Gebot, Ideen in der sinnlichen Welt zu ver-
wirklichen, nothwendig zu der Annahme, dass der Natur eine ideelle
Welt zu Grunde Hegt " (281).
AVer wird sagen wollen, dass diese Darstellung falsch sei ? Sie
gibt alles AVesentliche wieder. Aber sie lässt doch, wenn auch
vielleicht nur aus pädagogischen Gründen, Lichter und Schatten weg,
welche sich im Original finden und welche dasselbe in ganz an-
derer Beleuchtung erscheinen lassen. Zunächst die „Ideen" der
theoretischen Vernunft. Gewiss sind die A^orstellungen von Gott,
Freiheit und Unsterblichkeit — so stellt sie ja Kant gerne zu-
sammen — „nothwendige Ideen der speculativen A'ernunft". In
Paulsens Darstellung wird nun ja allerdings ausdrücklich er-
wähnt, dass diese Ideen „dem subjectiven Bedürfniss der A'ernunft"
ihren Ursprung verdanken (S. 227). Aber dieser subjective Cha-
rakter der Ideen, den Kant nicht selten scharf hervorliebt, tritt
in der weiteren Ausführung bei Paulsen ganz zurück hinter ihrem
objectiven Realitätswertli. Wenn ich zimi Nachweis dessen einige
142 H. Vailiinger :
Stellen aus Kant citire, so weiss ich wohl, wie misslich es mit dem
Citiren bei Kant steht. Paulsen sagt einmal: „Kant muss doch
aus dem Ganzen a- erstanden werden; mit einzelnen Stellen kann
man ungefähr jede mögliche und unmögliche Ansicht aus ihm her-
ausbringen" (Vorrede). Xun — -Jede" gerade nicht. So steht es
doch nicht mit Kants Werken, dass man von ihnen sagen könnte :
Hie Über est, in quo siia quaerit äogmata quisque,
Invenit et pariter do(jmata quisque sua.
Aber das ist ja wahr , dass sich gerade über die entscheidenden
Punkte (sei es scheinbar oder wirklich) entgegengesetzte Aeusserungen
bei Kant finden ; und dass bei Kant sich thatsächlich viele einander
A\-idersprechende Stellen nachweisen lassen, habe ich selbst ja wohl
oft genug gezeigt. Ich habe hierüber noch weiter unten etwas zu
sagen: hier will ich nur so viel bemerken, dass, um Kant „aus dem
Ganzen zu verstehen" , man doch auch den ganzen Kant geben
muss, und dazu gehören in diesem Falle doch auch diejenigen Par-
tien, in denen die Ideen einen ganz subjectiven Charakter annehmen.
6. Ich will zum Erweis des Gesagten Kants Lehre von den
„Gedankendingen" erörtern. Es ist dies ein meines "Wissens bis
jetzt ganz vernachlässigtes Thema. Am Schluss der transcenden-
talen Analytik stellt Kant bekanntlich eine „Tafel der Eintheilung
des Begrifis von Xichts" in seinen verschiedenen Bedeutungen
auf. Er unterscheidet vier Bedeutungen ; die erste ist : „Leerer Be-
grifi ohne Gegenstand =: ens rationis = Gedanken ding." .,Das Ge-
dankending . . . darf nicht unter die Möglichkeiten gezählt werden,
weil es bloss Erdichtung (obzwar nicht widersprechende) ist." Die
Noumena werden ausdrücklich schon hier zu diesen eutia rationis
gerechnet. Man könnte nun sagen, Kant meine wohl, nur vom
Standpunkt des Verstandes seien die Xoumena entia rationis, also
bloss „erdichtete" Gedankendinge, aber vom Standpunkt der Ver-
nunft aus bekommen sie ihm ein anderes Werthvorzeichen. Sehen
wir daher, wie sich die transcendentale Dialektik zur Lehre von
den „Gedankendingen" stellt. Im I. Buch derselben, im 2. Ab-
schnitt, wird die Lehre „von den transcendentalen Ideen" entwickelt.
Gegen den Schluss des Abschnittes (A 337, B 394) macht K. eine
fundamentale Distinction. Er unterscheidet ein Gedankending (ens
rationis), „welches nur- willkürlich gedacht ist", von einem solchen,
welches „durch die Vernunft nothwendig vorausgesetzt wird". Die
„transcendentalen Ideen" gehören ausdrücklich zur zweiten Gattung
und machen sie vollständig aus.
Kant — ein Metaphysiker ? 143
Die transcendentalen Ideen sind darnach zwar notliwendige Vor-
aussetzungen der menschlichen Vernunft, aber sie bleiben doch er-
dichtete Gedankendinge. An einer etwas früheren Stelle desselben
Abschnittes (A 328 f., B 384 ff.) drückt Kant dasselbe ebenso scharf
mit anderen Worten aus: Die transcendentalen Ideen sind „Ma-
ximen", denen niemals „in concreto" etw^as Congruentes entspricht;
„die Annäherung zu einem Begriffe, der aber in der Ausübung
doch niemals erreicht wird, ist eben so viel, als ob der Begriff ganz
und gar verfehlet würde"; und „so heisst es von einem dergleichen
Begriffe: er ist nur eine Idee". „Ob wdr nun gleich von den
-o
transcendentalen Vernunftbegriffen sagen müssen : sie sind nur
Ideen, so werden wdr sie doch keineswegs für überflüssig und
nichtig anzusehen haben" : sie dienen dem Verstände zum Canon u. s. w.
Also die transcendentalen Ideen sind erdichtete, aber nothwendig er-
dichtete Begriffe und besitzen einen Ijedeutsamen AVerth für die
theoretische (und noch mehr die praktische) Vernunft — a])er sie
sind „nur" Ideen, d. h. nitia rationis , aber eben nicht willkürlich
gemachte, sondern nothwendig gedachte. (Ebenso A 327, B 384.)
Man könnte nun sagen, Kant sei im Verlaufe der transcendentalen
Dialektik doch über diese negativen Anfangsbestimmungen zu po-
sitiveren Endresultaten gelangt. Sehen wir uns zu diesem Zweck
den „Anhang zur transcendentalen Dialektik" an, auf welchen als
einen „nicht unwichtigen" Schlussabschnitt auch Paulsen (S. 223)
ausdrücklich hinw^eist mit der Bemerkung: „er könnte, unter an-
derem Gesichtspunkt, auch als das Hauptstück bezeichnet werden:
er bringt die positive Behandlung, wenn man will, die transcen-
dentale Deduction der Vernunftideen, eine beschränkte und be-
dingte, aber doch eine wirkliche Deduction". Ganz richtig; Kant
will dasell)st eine „Deduction" der Ideen geben (A 669, B 697),
eine wirkliche Deduction, al)er doch nicht ohne Weiteres eine De-
duction ihrer Wirklichkeit im Sinne der Existenz. AVir linden näm-
lich, dass Kant hier jene Eintheilung der Gedankendinge in eine
schlechte und eine gute Art mit anderen AVorten wiederholt. Es
heisst an der angegebenen Stelle: „Die Ideen der reinen Vernunft
verstatten zw'ar keine Deduction von der Art, als die Kategorien;
sollen sie aber mindestens einige, wenn auch nur unbestimmte, ol)-
jective Gültigkeit haben und nicht bloss leere Gedankendinge (oifia
rationis ratiocinantis) vorstellen, so muss durchaus eine Deduction
dersellien möglich sein" u. s. w. AVie heisst es nun aber weiter
mitten im A'erlauf dieser Deduction? Alle Vernunftideen werden
]^44 H. Vaihinger:
da auf den Generalnenner der „systematischen Einheit" gebracht
(A 680 f., B 708 f.). Diese „systematische Einheit" dient der Ver-
nunft „nicht objectiv zu einem Grundsatze, um sie über die Gegen-
stände, sondern subjectiv als Maxime, um sie über alles mögliche
emi^irische Erkenntniss der Gegenstände zu verbreiten". „Die Ver-
nunft kann aber diese systematische Einheit nicht anders denken,
als dass sie ihrer Idee zugleich einen Gegenstand gibt, der eben
durch keine Erfahrung gegeben werden kann Dieses Ver-
nunftwesen (ens rationis ratiocinatae) ist nun zwar eine blosse Idee
und wird also nicht schlechthin und an sich selbst als etwas
"Wii-kliches angenommen, sondern nur problematisch zum Grunde
gelegt . . . um alle Verknüpfung der Dinge der Sinnenwelt so an-
zusehen, als_ ob sie in diesem Vernunftwesen ihren Grund hätten ..."
„Vernunftwesen" ist hier dem Zusammenhang nach natürlich nicht
vernünftiges Wesen, sondern = von der Vernunft erdachtes Wesen,
also eben = Gedankending oder ens rationis. Die Ideen werden
also ganz unzweideutig als e}itia rationis bezeichnet, aber Kant
macht eben einen wesentlichen Unterschied zwischen einem „ens
rationis ratiocinantis'-'- und einem „e>ts rationis ratiocinatae''. Die
Distinction wird durch ein sehr zweifelhaftes Latein fixirt^), aber
sie ist unzweifelhaft sehr fein und findet ihre Erläuterung durch
eine ähnliche Unterscheidung : am Schluss der Einleitung zur trans-
^) Ob Kant Vorgänger in dieser wunderlichen Terminologie hat, ist mir
nicht bekannt. Mellin (I, 508) lässt hier, wie so oft, im Stich. Wolff und
seine Schule verwendet den Ausdruck ratiocinari durchaus im classischen Sinne
„vernunftgemäss schliessen" (vgl. Baumeistek, Philosophia definitiva, § 806,
809 u. ö.). Kant nun gebraucht das Deponens ^ratiocinari"-, speciell im Partie,
praes., [ratiocinans] im tadelnden Sinne = vernünfteln, d. h. auf logisch un-
rechtmässigem, aber scheinbar richtigem Wege erschleichen. Das Partie, perf.
gebraucht Kant passivisch — was ja an sich nicht selten bei Deponentia ist, und
speciell ratiocinari wird auch schon bei Vitkuv j)assivisch gebraucht. Dieses Partie,
perf. in passiver Bedeutung (ratiocinatus) gebraucht nun Kant in lobendem
Sinne, aber auffallender Weise in zwei verschiedenen Anwendungsweisen. E r-
stens: Wenn ihm die ratio ratiocinans die vernünftelnde Vernunft ist, d. h.
diejenige, welche Erschleichungen begeht, so kann dem gegenüber die ratio
ratiocinata nur die (durch Selbstbesinnung) zur Vernunft gebrachte Vernunft
sein, also eine Vernunft, welche nicht mehr zum blossen Vernünfteln miss-
braucht wird, sondern welche durch Selbstiarüfung erst Avahrhaft vernünftig
und mündig gemacht worden ist. — Zweitens: Eine andere Anwendungs-
weise des Passivum zeigt die Verbindung „conceptus ratiocinati" : es sind dies
die richtig erschlossenen und einen ernsten Sinn einschliessenden Begriffe ün
Gegensatz zu den conceptus ratiocinantes, welche bloss „vernünftelnde", spiele-
rische Producte sind.
Kant — ein Metaphysiker ? I45
cenclentalen Dialektik {A. 311, B. 368) scheidet Kant die Vernunft-
begriffe in zwei Gattungen : conceptus ratiocinautes, vernünftelnde Be-
griffe, welche „diu'ch einen Schein des Schliessens erschlossen" sind,
und conceptus ratiocinati, richtig geschlossene Begriffe, welche zwar
niemals „ein Glied der enii) irischen Synthesis ausmachen, aber dessen
ungeachtet objective Gültigkeit haben". In der Krit. d. Urth. § 74
wird derselbe Unterschied mit ähnlichen Worten gemacht : auf der
einen Seite steht „ein vernünftelnder und objectiv leerer Begriff"
(conccptvs ratioclnnns)'', auf der anderen Seite ein „Vernunftbegriff",
ein Erkenntniss gründender, von der Vernunft bestätigter (conceptus
ndiocmatus)''. Nach dieser Terminologie sind also die transcenden-
talen Ideen notwendige Vernunftbegriff'e (conceptus rc(tiocinati), nicht
bloss vernünftelnde Begriff"e (conceptus ratiocinantcs). Der Empiris-
mus, resp. der Skepticismus hatte jene Ideen für blosse „vernünf-
telnde Begriffe", d. h. für willkürlich erdachte Gedankendinge er-
klärt: dem Systeme de la nature sind sie phantastische, sinnlose
Einbildungen (vgl. Paulsen S. 227). Diese Auff'assung bekämpft
Kant aufs heftigste: sie sind ihm, um mit Schiller zu sprechen,
„kein leerer Wahn". Aber vertritt er darum die entgegengesetzte
Auffassung des Rationalismus resp. Dogmatismus ? Mit dieser Rich-
tung theilt Kant allerdings die Ueberzeugung, dass jene Ideen noth-
wendig gedachte Begriä"e sind, d. h. Begriffe, welche jede normale
Menschenvernunft mit innerer Nothwendigkeit denken muss, aber
diese nothwendig in uns und von uns gedachten Begriff'e haben ihm
darum doch keinen im strengen Sinn des Wortes a])solut-objectiven
Realitätswerth, sondern nur einen subjectiven Werth als Mittel zur
ideellen Abrundung des Weltbildes. Von ihnen kann man sagen,
was Goethe seinen Tasso von seinen Phantasiegestalten, welche
nicht existiren und doch existiren, sagen lässt :
Es sind nicht Schatten, die der Wahn erzeugte,
Ich weiss es, sie sind ewig, denn sie sind.
]Man kann den tiefsten Unterschied des Kriticismus Kants vom
Dogmatisnnis so formuliren: Kant hat, im Gegensatz zum rationa-
listischen Dogmatismus, gelebrt : was m)tliwendig gedacht werden
muss, darf darum doch noch nicht für e x i s t i r e n d ausgegeben
werden; oder: Nothwendigkeit des Gedachtwerdens schliesst nicht
Xothwendigkeit des Existirens ein. AVenn man sich etwas so oder
so „denken" muss, so ist dies kein Beweis, dass es auch realiter
so sich verhält. So weit ich sehe, ist dieser überaus wichtige Punkt
noch nicht genügend ])eachtet worden, ol)gleich er doch den Schlüssel
Sigwart-l-'estschrift. XO
146 H. Vaihinger:
zur Ideenlelire bildet-"). Denn die Ideen sind ihm eben nothwendig
von der Vernunft hervorgebrachte Begriffe, deren sich dieselbe nicht
entschlagen kann und soll, aber sie bleiben ihm doch entia rationis,
wenn auch rationis ratiocinatae d. h. Producte der durch kritische
Selbstprüfung erst recht zur Vernunft d. h. zu sich selbst gebrachten
Vernunft, aber Producte, welche ihren Charakter als entia rationis
behalten d. h, als leere Begriffe ohne Gegenstand.
Sobald man aber diesen Sachverhalt verkennt und den trans-
scendentalen Ideen objectiven Erkenntnisswerth zuschreibt, so ver-
fällt man dem ..dialectischen Schein". „Die transcendentalen Ideen
sind niemals von constitutivem Gebrauche, so dass dadurch Begriffe
gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle dass
man sie so versteht, so sind es bloss vernünftelnde ( dialec-
tische) Begriffe" (B 672). Also durch Missbrauch sinken jene noth-
wendigen Vernunftbegriffe sogleich zur Stufe der willkürlich erdach-
ten und bloss vernünftelnden Begriffe herab, von denen sie doch
oben so scharf unterschieden wurden ; in diesem Sinne spricht Kant
auch A 339, B 397 von den durch solchen Missbrauch entstehenden,
resp. zu demselben führenden ., vernünftelnden Schlüssen'-. Eben
desshalb spricht ja Kant überall so energisch gegen den ]\Iissbrauch
der trahscendentalen Ideen, weil dieselben dadurch ihren sj^ecifi-
schen Charakter als Ideen verheren und in die schlechte Gesell-
schaft willkürlich erdachter Begriffe gerathen. Von den Ideen gilt
ganz, was Kant von den sich an sie anschliessenden „transcenden-
talen Hypothesen" sagt: man muss sie in ihrer eigenthümlichen
..Qualität erhalten"; sowie man ihnen auch nur „einige absolute
Gültigkeit zuschreibt, ist die Gefahr vorhanden, die Vernunft unter
Erdichtungen und Blendwerken zu ersäufen" (A 782, B 810).
-") Darin liegt zugleich auch die Er^viclerung auf die Ausführungen von
Paulsex in seinem Aufsatz : Kants Verhältniss zur Metaphysik (.Kantstudien"
IV, 413 — 447), welcher mir erst nach Abfassung meiner Abhandlung zuge-
gangen ist. Paulsex zeigt (bes. S. 415, 419, 423, 428 ff.) ganz richtig, dass
es Kants Meinung sei : es ist für uns unvermeidlich zu denken, dass aller
Erscheinung ein Reich der Zwecke u. s. w. zu Grunde liege. Aber darin eben
besteht Kants grosse kritische That, gezeigt zu haben, dass die Nothwendigkeit
eines Gedankens noch nicht die Nothwendisfkeit des in ihm Gedachten im
Sinne der Existenz einschliesst. Als Kant dies einsah, stand er auf der höch-
sten Spitze, auf die ihm später nur Fichte — und auch dieser nur in seinen
kühnsten Momenten — folgte. Dass Kant selbst und mit ihm die grösste Zahl
seiner Anhänger und nun auch Paulsen die Nothwendigkeit eines Gedankens
sofort wieder in Nothwendigkeit des Gedachten im Sinne der realen Existenz
verwandelt, ist ein „nothwendiges optisches Phänomen" (Paulsex a. a. 0. S. 434).
Kant — ein Metaphysiker ? 147
In diesem negativen Besultat könnte man sich durch einige
auffallende Wendungen in den von uns citirten Textworten irre
machen lassen: Kant habe doch ol)en ausdrücklich gesagt, die De-
duction der Ideen solle erweisen, dass sie „nicht bloss leere Ge-
dankendinge" seien: wie könne man also nun sagen, es sei in seinem
Sinne, sie „leere Begriffe ohne Gegenstand'' zu nennen? Man be-
achte aber el)en Avohl den Gegensatz der entia rationis ratiocinmüis
und der entia rationis ratiocinatae: jene sind „leere" Gedankendinge
in dem Sinne, dass sie „überflüssig und nichtig" sind, diese dagegen
sind Vei'nunftbegritt'e, welche nothwendig und nützlich sind, aber sie
bleiben doch Vernunftwesen = entia rationis und in diesem Sinne
sind sie eben nach der oben mitgetheilten Definition Kants „leere
Begriffe" d. h. „ohne Gegenstand". Eben so wenig darf man sich
durch die Wendung irre machen lassen, die Deduction der Ideen
habe zu zeigen, dass sie „wenn auch nur unbestimmte, objeetive
Gültigkeit" haben, oder wenn Kant in der Kr. d. Urth. § 74 im
Gegensatz dazu die vernünftelnden Begriffe „objectiv leer" nennt.
„Objectiv" ist hier nicht = absolut oder real im metaphysischen
Sinne, sondern = allgemeingültig im erkenntnisskritischen Sinne;
im letzteren Sinne sind Begriffe „objectiv", wenn sie zum Aufbau
des Weltbildes notwendig sind, aber sie bleiben darum doch im
gewöhnlichen Sinne subjectiv, wie denn ja auch Kant ausdrücklich
in der oben 'S. 144 mitgetheilten Stelle den Ideen nur den Werth
„subjectiver Maximen" zuschreibt. Man wird sich also auch nicht
täuschen lassen, wenn Kant ferner in der Stelle der Kr. d, Urth.
die Vernunftbegriffe „Erkenntniss gründend" nennt; auch „Erkennt-
niss" ist hier nicht im alten, metaphysischen Sinne, sondern im
Kantischen „erkenntnisskritischen" Sinne zunehmen: Allgemeinheit
und Nothwendigkeit der Vorstellungsweise. Einen letzten Eettungs-
anker könnte man in dem oben S. 144 mitgetheilten Ausdruck „pro-
blematisch" flnden: wenn jene Ideen „problematisch" zu Grunde
gelegt werden müssen, so sei darin ja eben doch mindestens die
Möglichkeit der Existenz ausgesprochen. Wie aber Kant den lo-
gischen Werth des „Problematischen" fasst, darüber vergleiche man
z. B. einmal die Logik, Einl. IX: „So wäre z, B. unser Fürwahr-
halten der Unsterl)lichkeit bloss problematisch, wofern wir nur so
handeln, als ol) wir unsterldich wären." Das „als ob" charakteri-
sirt aber doch eine Erdichtung oder Avenigstens etwas der Erdich-
tung sehr Verwandtes.
An einer bis jetzt zu wenig beachteten Stelle der ]\[ethodcii-
10*
148 H. Vaihinger:
lehre gibt Kant dieser Auffassung unzweideutigen Ausdruck (A 771,
B 799): „Die Vernunftbegriffe sind, wie gesagt, blosse Ideen und
haben freilich keinen Gegenstand in irgend einer Erfahrung^) ....
Sie sind bloss in-obleniatisch gedacht, iini in Beziehung auf sie (als
heuristische Fictionen) regulative Principien des systematischen Ver-
standesgebrauchs im Felde der Erfahrung zu gründen. Sieht man
davon ab, so sind es blosse Gedankendinge, deren Möglichkeit nicht
erweislich ist, und die daher auch nicht der Erklärung wirklicher
Erscheinungen durch eine Hypothese zum Grunde gelegt werden
können". So knüpft das Ende an den Anfang an: die Vernunft-
begriöe sind „blosse Gedankendinge", und wie diese am Anfang
sogleich als „blosse Erdichtungen" bestimmt wurden, so sind sie
hier zum Schluss nur „Fictionen", Dies also ist Kants bis jetzt
nicht genug beachtete Lehre von den „Gedankendingen". — Der
Vollständigkeit halber vergleiche man noch dazu die Stellen B 497,
571, 594, 701: man wird überall das Gesagte bestätigt linden.
7. Es ist mir natürlich sehr wol bekannt, dass man die Wir-
kung dieser Stellen durch anders lautende Citate paralysiren kann :
es gibt Stellen genug bei Kant, in denen er der Vernunft das Recht
vindicirt, die Möglichkeit der durch die Ideen bezeichneten
intelligibeln Gegenstände anzunehmen; und es gibt ausserdem noch
andere Stellen, in denen er noch weiter geht, und der Vernunft das
Recht nicht nur, sondern auch die Pflicht vindicirt, die Wirklich-
keit des mundus intelligibilis anzunehmen. Solche Stellen mehren
sich in den sisäteren Schriften, sie fehlen aber auch durchaus nicht
in der Kr. d. r. V. , wie auch andererseits bis in die spätesten
Schriften hinein sich jene negativen Wendungen gelegentlich wieder-
holen. ]\Ian kann nun mit Paulsen in diesen negativen Wendungen
„die grösste Entfernung des Kantischen Denkens von seinem Cen-
truni" finden (Vorr. VIII); man kann mit der Marburger Schule
in der Hypostasirung der Ideen einen Abfall von der coijernica-
nischen That Kants, von der Erkenntnisskritik, erblicken. Aber
^) Der hier ün Text bei Kant folgende Zusatz kann leicht missverstanden
werden, findet aber durch das Folgende seine unzweideutige Erklärung. Man
könnte meinen: die VernunftbegrifFe bezeichnen , gedichtete und [doch]
zugleich dabei für möglich angenommene Gegenstände" (jenseits der Er-
fahrung). Aber sie sind vielmehr „blosse Gedankendiuge, deren Möglichkeit
nicht erweislich ist": so hiess es ja auch sogleich am Anfang, bei der
Tafel der Begriffe von Nichts, das Gedankending dürfe nicht „unter die Mög-
lichkeiten gezählt werden". In diesem Sinne wii-d ja der Ausdruck „nur eine
Idee" einmal (A 644, B 672) emfach mit fociis imaginanus verdeuthcht.
Kant — ein Metaphysiker? 149
weder dürfen die Anhänger dieser schärferen Richtung diese posi-
tive Tendenz hei Kant einfach leugnen, noch dari' der Vertreter der
conciliatorischen Richtung jene l)ei Kant thatsächhch vorliandene
negative Tendenz unherücksichtigt hissen. Diese verschiedenen Ten-
denzen sind da, sie gehören zum ganzen und voHen Kant. Kant
ist so reich, dass man ihm nichts zu ge])en hat: aher man darf ihm
auch nichts nehmen, sonst macht man ihn mit Unrecht ärmer; man
verkennt die Fülle seines Geistes und den Reichthum seines Den-
kens, wenn man einseitig nur die negative oder die positive Seite
herauskehrt.
In treffender Weise hat F. Heman dies gezeigt in seinem Ar-
tikel „Paulsens Kant" (Zeitschr. f. Philos. u. phil. Kritik, Bd. 114).
Er sagt da auch unter Anderem: „Es giht im Lehen aller grossen
und tiefen Geister, die eine welthistorische Wirkung auf ihr Ge-
schlecht auszuühen herufen sind, und zu diesen gehört auch Kant,
Momente und Perioden, wo sie üher ihre eigene Natur hinausge-
hoben erscheinen ... In einer solch gehobenen Periode, erfüllt von
der Grösse und AVucht seiner Sache, hat auch Kant seine Kr. d.
r. V. geschrieben; da war er der kampffreudige Ritter, der wag-
halsig vor keinem Streich zurückschreckte und kühn und frei nach
allen Seiten Gedanken blitzen Hess, die ihm nachher bei ruhiger
Ueberlegung selbst allzuverwegen und gefährlich erschienen. Dies
Heroische in Kants Auftreten und in der Kr. d. r. V. , das ver-
missen wir in Paulsen's Darstellung; das hätte wohl in stärkere
Beleuchtung gesetzt werden dürfen. So dürfte es auch .... nicht
zutreffend sein, zu sagen, Kant nehme hie und da in der Kritik
das Ansehen des Agnostikers an. Das hat er nicht bloss , ange-
nommen', er hat sich nicht etwa zum Schein oder um einen Effect
zu erreichen, mit diesem IVIantel drapirt, sondern die Hochffut seiner
Gedanken riss ihn bis zu diesen scei)tischen Riffen fort . . . ." Ich
würde diese Ausführungen nur dahin ergänzen, dass ich die Zeit
der kritischen HochHut nicht bloss auf das Jahr 1781 beschränken
würde : ich linde, dass sie auch später öfter Aviederkehrt und dass
„die sceptischen Riffe" auch später nicht fehlen; um so mehr stimme
ich mit Heman dahin überein, dass „die scharfen Spitzen und
schroffen Kanten, welche die Kr. d. r. V. herauskehrt", in der
Wiedergabe derselben nicht übersehen werden dürfen über der un-
bestreitbar vorhandenen positiven Tendenz Kants.
8. Aber wenn das der Fall ist, ist denn dann Kant nicht ein
schwankendes Rohr, das im AVinde der Gedanken hin und her be-
150 H. Yaihinger:
wegt wird? Eine solche Bemerkung macht auch Paulsen, wenn
er S. 244 sagt: „Freilich hat die Metaphysik bei Kant etwas eigen-
thümlich Schillerndes, zwischen Wissen und Nichtwissen Schweben-
des ; jedem: es ist so, folgt ein: das heisst, es ist eigent-
lich nicht so, auf das dann ein letztes: es ist aber doch so,
kommt '\ Diese Schilderung als solche ist ganz zutrefiend: ich
würde sie nm- dahin ergänzen, däss, wie Paulsen an einer anderen
Stelle (S. 270) sich glücklich ausdi'ückt, der Verstand zu keinem
„Letzten" kommt, sondern in der Schwebe bleibt. Aber ver-
dient denn nun diese — nennen wir sie einfach diese — kritische
Schwebe nicht den schärfsten Vorwurf? Ist das denn — so rufen
Alle, welche auf Grund ihrer „festen Position'- jede, auch die
schwierigste Frage mit beneidenswerther Sicherheit sofort durch
ein — möglichst laut vorgetragenes — einfaches Ja oder Nein be-
antworten, — ist denn das überhaupt noch ein Philosoph, der so in
der Schwebe bleibt und uns zumuthet, dieses Schweben mitzumachen?
Man erlaube mir, diese Frage mit einer Gegenfrage zu erle-
digen: Ist es denn bei Platox anders? Paulsex weist mit Vor-
liebe darauf hin, dass in dem Gewebe der Kantischen Philosophie
der Piatonismus den Einschlag bilde: überall tritt uns bei Kant
(wir führten die Stelle oben S. 138 ausführlich an) „der echte
Platoniker entgegen; und wer auf diesen nicht achtet, der wii-d
auch den Kritiker nicht verstehen". Sehr lieb ist mir diese Er-
innerung an den „göttlichen Plato", wie ihn Schopexhauer im
Anschluss an die Alten mit Recht nennt: sie bietet Gelegenheit,
Kant durch Piaton und vielleicht auch Piaton dui'ch Kant zu er-
läutern. Piaton liebt es bekanntlich, die Darstellung seiner Lehren
durch poetische Schilderungen zu beleben, die er selbst als [lüd-zi
bezeichnet : von besonderer Wichtigkeit sind die Mythen im Tiniäus,
betreffend die Bildung der Welt durch den göttlichen Demiurgen,
die Mythen des Phädrus, betreffend die Präexistenz der Seele und
ihi-e freie Entscheidung in diesem Zustand, und die Mythen der
Republik, die sich auf die Unsterblichkeit der Seele beziehen. — Gott
Freiheit und Unsterblichkeit sind auch l)ei Piaton wie bei Kant die
Hauptthemata. — Man hat die Platonischen Mythen in verschiedene
Klassen einzutheilen gesucht : für uns kommen diese feineren Unter-
schiede hier nicht in Betracht. AVas uns hier interessirt, das ist
der Umstand, dass durch die Ineinanderwebung der wissenschaft-
lichen und der mythischen Darstellung*) die Avahre Meinung Pla-
*) ,Ce melange d'ombres et de lumieres" sagt CousiN" treffend in seiner
Kant — ein Metaphj-siker ? 151
tons von Anfang an streitig geworden ist , dass in Folge der Un-
möglichkeit, das wissenschaftliche und das mythische Element (koyoc,
mid ixOö-o^) reinlich zu scheiden, die Platonische Lehre ganz hetero-
gene Auffassungen gefunden hat, und dass in Folge dessen sich
vielfach das Urtheil gehildet hat, dass Piatons Ansichten
i n j e n e n entscheidenden Fragen seihst eben sc hil-
lern d u n d s c h av a n Ic e n d , j a v i e 1 f a c h wider s p r e c h e n d
seien.
Schon der Kantianer Tennemann hat dieses Schwanken Pia-
tons treftend geschildert in seinem System der piaton. Philosophie
1, 141 If. : „Ihm galt der Mythus für keine Wahrheit, sondern nur
die zu Grunde liegende Idee, die Hegel für die bildende Einbil-
dungskraft, ob er gleich zuweilen sich die IVIiene giebt, als wenn er
alles für eine ausgemachte Sache halte. Aber auch alsdann liiessen
unbemerkt Zweifel, Bedenklichkeiten ein, welche seinen ersten Glau-
ben wankend machen." Bekannt ist, dass Hegel dieses Urtheil
über Piaton theilte, ohne dass dasselbe seiner Bewunderung Piatons
Abbruch thut. In seinen „Vorlesungen über die Gesch. d. Philos."
(1833) II, 188 heisst es: „Die mythische Form der platonischen
Dialoge macht das Anziehende dieser Schriften aus, aber es ist eine
Quelle von Missverständnissen, es ist schon eines, wenn man diese
Mythen für das Vortreftiichste hält . . . Das ist nicht die wahrhafte
Weise der Darstellung ... es ist eine Ohnmacht des Gedankens . . .
der Gedanke ist noch nicht frei Die Gefahr ist unal)wend-
bar, dass man solches, Avas nur der Vorstellung angehört, nicht den
Gedanken — für etAvas Wesentliches nimmt . . . diese Mythen sind
Veranlassung gewesen, dass viele Sätze aufgeführt werden als Phi-
losopheme, die für sich gar nicht solche sind." Hegel findet dann
(S. 244 ft'.) sogar im Haupti)unkt selbst, in der Ideenlehre, eine
„ZAveideutigkeit", ol) diesell)en Wesenheiten sind oder Begriffe;
„einestheils" sei die erste Lehre bei Piaton vertreten, „anderntheils"
aber die zAveite. — Bei Ferd. Christ. Baur findet sich dieselbe
Auffassung. In der Ijckannten Schrift: „Das Christliche des Pla-
Histoire generale de la philosophie, 1870, p. 147. Chaignet, der diese Stelle
auch citirt, sagt in seiner Schrift: La vie et les ecrits de Piaton, Paris 1871,
p. 495 nicht minder treöend von Piatons Mythen: ,0n ne peut donc pas
s'etonner de l'emploi qu'en a l'ait Piaton, mais on peut lui reprocher .... de
les avoir presentes sous une forme si vague, et de les meler si intimement au
tissu de sa pensee qu'on ne sait pas plus si c'est une image ou une realite
qu'on a sous les yeux". Und Chakjxkt findet dann auch, dass Piaton wohl
selbst sich über diese Scheidung nicht i^ur detinitiven Klarheit gekommen sei.
152 H. Vaihiiiger :
tonismus" (1837) wirft er desshalb (S. 44 ff.) die Frage auf: ist der
Mythus von dem Abfall der Seelen „eigentlich zu nehmen oder un-
eigentlich?" Er kommt zu keiner dehnitiven Entscheidung, was
Piatons eigentliche Meinung sei, weil, was wir zur blossen mythischen
Form rechnen, Piaton selbst „von dem Inhalt der Idee noch nicht
völlig abzusondern vermochte", während doch an anderen Stellen
jene mythische Vorstellung bei ihm selbst „wieder zurücktritt". So
ist es auch mit dem Mythus der AVeltschöpfung, „ der mit sich selbst
in Widerstreit kommt" (72). „Der platonische AVeltschöpfer . . .
lässt sich, vom Standpunkt der platonischen Ideen aus betrachtet,
auf die blosse Bedeutung des mythischen Bildes zurückführen ; wer
mag aber entscheiden, wie weit diese Scheidung von Bild und Idee
dem Plato selbst zum klaren Bewusstsein gekommen ist?" lieber
die hiebei „sich widersprechenden" beiden Standpunkte Piatons, den
mythischen und wissenschaftlichen, spricht Baue dann weiter in den
Tübinger Theolog. Stud. u. Krit. 1837, S. 552—558. — Zeller
hat die Scheidung des x0^og und Xoyog bei Piaton mehr ins Ein-
zelne hinein zu vollziehen gesucht, er findet in der mythischen Dar-
stelhmg kein „unübersteigliches Hinderniss des Verständnisses" (Die
Philos. d. Griechen II, 1, 3. Aufl. S. 422) ; aber bei der Scheidung
der beiden Elemente ergeben sich dann doch Schwierigkeiten der
„Deutung": denn die mythische Darstellung weist doch „fast immer
auf eine Lücke der wissenschaftlichen Erkenntniss " hin (S. 484) ;
so wenn Piaton im Timäus „die Entstehung der Dinge erklären will,
die doch nach den Voraussetzungen seines Systems unmöglich ist";
dass da Zweideutigkeiten und „Widersprüche" entstehen müssen,
ist unabweisbar, wie sich dies dann besonders bei den Seelenmythen
zeigt (691 fl".); die Scheidung der „ernstlich gemeinten Bestimmungen"
von den mythischen, resp. ihr Einklang ist nirgends rein durchzu-
führen: „poetisches Spiel" und „ernstliche Meinung" gehen hier
leise in einander über, stehen sich dort schroff gegenüber. In wel-
cher maasslosen Weise Teichmüller diesen Sachverhalt zugleich
verkannt und missbraucht hat, ist bekannt. — Ich führe noch ein
Urtheil aus neuester Zeit an: Pfleiderer in seinem Werke „So-
crates und Plato" (Tübingen, Laupp 1896); man müsse sich, heisst
es da treffend (S. 623), bei der Darstellung der Platonischen Lehren
„vor scharf formulirten Entscheidungen hüten, wo unser Philosoph
selber eben keine solchen hat, sondern z w i s c h e n verschie-
denen ihm g 1 e i c h w i c h t i g e n Interessen und Nei-
gungen schwankt, indem er sich und dem Leser dies Schwe-
Kant — ein Metapliysiker ? 153
ben durch die Verschleierung im fiiessenden Bihl gesteht."- Man
vergleiche ferner ib. S. 461, 633, 668 (sowie 420, 439, 441, 454)
über dies „Schwanken und Wechseln", „Schwanken und Schweben",
„Schillern'') und Schweben" bei Plato.
Nun, was Pfleiderer so von Piaton sagt , genau dasselbe,
sogar mit denselben Ausdrücken, sagt Paulsen von Kant: beide
linden bei ihrem Philosophen ein „Schillern und Schweben", und
das gerade in den entscheidenden Punkten. In den Augen aller
derer, welche mit der Enge ihres Schulmeisterhorizontes die Philo-
sophie messen , und die Philosophen meistern , ist dies natür-
lich ein Fehler, den sie mit Behagen dreimal unterstreichen.
Wer einen weiteren Blick hat, urtheilt hierin milder, ja er findet
vielleicht, dass die Widersprüche, die sich bei beiden grossen Phi-
losophen ■ — wie auch bei andern — linden, nur das nothwendige Gegen-
stück zu dem antinomischen Charakter der Wirklichkeit selbst sind.
Ein Philosoph, der eben nur eine Seite an der Wirklichkeit ins Auge
fasst, kann bei der theoretischen Bearbeitung eben dieser einen
Seite leicht ohne AVidersprüche auskommen. Je vielseitiger aber
ein Philosoph ist — wie z. B. Piaton im Gegensatz zu Democrit
— d. h. je mehr Seiten der Wirklichkeit er in Betracht zieht, desto
weniger wird er Widersprüche vermeiden können. „Das subjective
Oscilliren wäre schliesslich nur das Gegenbild des objectiven Schil-
lerns der Sache" sagt Pfleiderer a. a. 0. 633 treffend (vgl.
auch S. 439, 441, 443. 434) ; und ähnliche Gedanken hat auch
Krohn ausgesprochen in seiner „Platonischen Frage" (S. 142 ff.) :
„Wo ist die Philosophie, die als ein System gedachter und gewollter
Ueberzeugungen noch bestehen kann , wenn man das Messer der
formalen Logik an sie setzt? Je höher sie steht, je tiefer sie gräbt,
desto zuversichtlich mehr Widerspruch in ihr". „Von Platon bis
auf Schopenhauer herab ist kein grosser Denker nach solchen
Massstäben ... zu würdigen". Trotz des Spottes Teichmüllers
(Liter. Fehden II, 168, 177) steckt in dieser Auffassung*') beach-
tenswerte Wahrheit. Ich selbst habe in meiner schon oben citirten
Abhandlung : Zu Kants Widerlegung des Idealismus (Strassb. Ab-
handl, S. 138) bemerkt, dass die Widersprüche bei Kant nicht
selilechterdings als ein Zeichen der Unvollkommenheit zu fassen
seien, sondern als ein Zeugnis der vielseitigen Gründlichkeit, mit
welcher Kant die AVirklichkeit betrachtet: „die Widersprüche bei
°) Vgl. Diog. Laert. Ill, 38: dvciaoL 5s xe/pyj-ca-. -oix'lXo-.g IlXäTtov.
") Aehnliches auch bei v. Stein*. Oosch. d. Platonismii!< I, *2o4.
154 H. Vaihinger:
Kant sind der Ausdruck des Ernstes, mit dem Kant die vorhandenen
Gegensätze erfasste und mit dem er den Fehler vermeiden wollte,
der in der einseitigen Vertretung Einer Richtung gelegen wäre ; sie
sind, da jene von ihm vereinigten historischen Richtungen Aus-
prägungen der in der Natur des Gegebenen selbst liegenden Ver-
anlassungen sind, in letzter Linie der Ausdruck der Widersprüche,
in welche das menschliche Denken überhaupt, wie es scheint, noth-
wendig geräth". Ich glaube, es war Caelyle, der einmal einem
Unterredner, der ihm einen Widerspruch nachwies, zornig entgegen-
rief: „Halten Sie mich denn für einen so flachen Kopf, dass ich mii-
niemals widersprechen dürfte?" Dies Privilegium darf auch Kant
für sich in Anspruch nehmen: das „Schillern und Schweben" bleibt
freilich ein Mangel, aber es ist ein Mangel, der tieferen Reichthum
offenbart.
9. Die Erinnerung an Piaton kann uns noch nach einer anderen
Seite hin für das Verstau dniss Kants nützlich sein. In Kants „Me-
taphysik" spielen natürlich die „Postulate der praktischen Vernunft"
eine Hauptrolle. Paulsen weist immer Avieder darauf hin, dass
Kant die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterl)lichkeit , deren theo-
retische Begründung durch den Dogmatismus er verwarf, als noth-
wendige Voraussetzungen für die Ethik wieder eingeführt hat. Na-
türlich ist auch diese Darstellung richtig ; sie kann duixh hunderte
von Stellen belegt werden. Aber an vielen dieser Stellen macht
Kant einen eigenthümlichen Vorbehalt, der in Paulsen's Darstel-
lung zurücktritt: wir müssen, sagt Kant, die Sache so betrachten,
„als ob" sie so wäre; wir müssen uns dabei der blossen „Analogie"
bewusst bleiben (vgl. z. B. Kr. d. r. V. B 594, 697—703). Gewiss
gibt es auch einige Stellen, an denen er uns seine Postulate „so
derb vor die Nase stellt", wie nur je es ein Metaphysiker that;
aber die meisten Stellen lauten doch sehr- vorsichtig und enthalten
„peinliche Verclausulirungen" , wie Paulsen selbst sagt (S. 224),
ohne, dieselben aber recht zur Geltung kommen zu lassen.
Was Kant so mit seiner beliebten Formel „als ob" einführt,
wie lebhaft erinnert es an manche der Platonischen jiöi)ot! Man
hat diese oft ungerecht verurtheilt oder ungeschickt vertheidigt : ich
erinnere nur einerseits an den Epicureer Kolotes, andererseits an den
Neuplatoniker Proklus, in dessen, durch W. Kroll so eben neu zu-
gänglich gemachtem Commentar zu Piatons Republik das Thema
sehr eingehend erörtert Avird. Dass aber die wichtigsten jener
Mythen im Interesse des praktisch-moralischen Zweckes
Kant — ein Metaphysiker ? 155
aufgestellt sind, hat man erst seit Kant so recht erkannt. Schon
der Hallesche Professor J. A. Eberhard hat in seinen „Neuen
vermischten Schriften" (Halle 1788, S. 292 tt'., 377 ff.) den Gegen-
stand für die damalige Zeit sehr verständig Ijehandelt. Er zeigt,
wie Piaton „die Lücken seiner Untersuchung mit Mythen ausfüllt",
wie aber Spätere diese Mythen als „wesentliche Theile" seiner Phi-
losophie, als „genaue Wahrheit" nehmen, während er selbst sie nur
dazu aufstellte, um dem Interesse „des praktischen Zweckes" zu
dienen. Im Besitz dieser Einsicht hätte übrigens nebenl)ei bemerkt
Eberhard bei seiner späteren Polemik gegen Kant dessen „Postu-
laten der praktischen Vernunft" mehr Verstäiidniss entgegenbringen
können. Auch Hegel (a. a. O. 188 ft. 212 ff.) deutet an, dass
Piatons Mythen praktisch-pädagogischen Zwecken dienen. Baur
(a. a. 0. 92) meint ebenfalls: die platonische Philosophie „wollte
durch die Mythen nicht blos abstracte Ideen bildlich versinnlichen,
sondern hauptsächlich für sittlich-religiöse Wahrheiten eine höhere
.... Autorität in Anspruch nehmen". Am schärfsten drückt dies
in neuerer Zeit Auffahrt aus in seiner Schrift ül)er „ Die platonische
Ideenlehre" (1883), in der er in Weiterbildung CoHEN'scher An-
regungen zu dem Resultat kommt : „ Die Unsterblichkeitsidee ist bei
Plato ein ethisches, praktisches Postulat, ein regulatives Princip,
dazu gesetzt, unser Handeln zu bestinmien, und wenn sie als solches
nicht erkannt wird, so rührt dies daher, dass sie öfters von ihrem
Zweck [eben dem praktischen Zweck] losgetrennt erscheint" (S. 112).
Also hier findet sich direct die Vergleichung des platonischen [xöD-o?
mit dem Kantischen Postulat'). Das Postulat bei Kant verlangt,
wir sollen so handeln, „als ob" jene Ideen wirklich Avären, wobei
aber nicht ausgeschlossen bleibt, dass sie wirklich sein mögen, und
dies „Mögen" verwandelt sich bei Kant an anderen Stellen in ein
„Müssen" — auch die Postulate der praktischen Vernunft zeigen
bei Kant dasselbe „Schillern" und „Schweben", wie die Ideen der
theoretischen Vernunft, und so ist der Vergleich der Kantischen
') Auch das Moment kehrt bei Beiden wieder, dass Beide gegenüber der
rücksichtslosen Zertrümmerung der alten Dogmen durch den Materialismus den
Inhalt derselben, aber in veränderter Form, festhalten. In der Vorrede zmn
Platonischen Staat macht Sculkiekmacher darauf aufmerksam, dass damit
Piaton „gegen die flache rai-sonuirende Göttervernichtung- auftrat, und so hoisst
es auch bei Ast, Pl-'s Leben und Schriften, 165, der Mythus bei PI. stehe Jm
Gegensatz zur Vernünftelei und seichten Aufklärung der Sophisten". Wie
dasselbe von Kant gilt , wurde oben S. 145 bemerkt und ist insbes. auch in
WindklüAXd's Gesch. d. n. Phil, tretfend durchgeführt.
156 H. Vaihinger:
Postulate mit den Platonisclien [lud-oi nicht ohne Weiteres abzu-
weisen. Die Platonischen [xöd-Gc ®) sprechen, wie Hegel so treÖend in
seiner Kunstsijrache sich äussert, in der „Weise des Vorstellens",
im Gegensatz zum reinen Gedanken; sie sprechen „in Gleichnissen
und Aehnlichkeiten". Diese „gleichnissweise Vorstellung" ist auch
die Art der Kantischen Postulate; auch Paulsen spricht einmal
(S. 264^ vgl. 270) von dem „symbolischen Anthropomorphismus",
den sie enthalten. Aber dieser symbolische Charakter derselben tritt
bei Paulsen dann doch weiterhin gar zu sehr zurück. Der symbolische
Charakter all dieser Ideen wird aber gerade in der neueren Theo-
logie nicht selten stark betont, speziell bei den von Kant beein-
ßussten Theologen, z. B. bei Sabatiee.
Paulsen hatte ■ — so sahen wir — Kant mit Piaton zusammen-
gestellt in der Absicht, Kants Verwandtschaft mit der früheren
Metaphysik aufzuweisen: ^-ir sollten in Kant „den echten Platoniker"
nicht übersehen, sonst würden wir auch „den Kritiker nicht ver-
stehen". AVir erkennen die Verwandtschaft Kants mit Piaton an,
aber wir meinen, man könne auch den echten Plato nicht verstehen,
wenn man den Kritiker in ihm übersieht. Gerade dies kritische
Element aber verbindet Piaton und Kant nicht minder, als das
metaphysische, ja vielleicht mehr als das Letztere^).
Das kritische Element bei Piaton zeigt sich nun aber insbe-
sondere darin, dass er einsieht, dass für die letzten und höchsten
Probleme uns nur Metaphern übrig bleiben, oder, wie Kant sagt,
Analogien. Dies Bewusstsein war eben bei Kant nicht minder stark.
^) Man verwechsle diese Auffassung der Platonischen Mj^then nicht mit der
TtiCHMüLLEE'schen. Nach TEiCHMtTLLER sind die Platonischen M.ytheu nur
für die Menge berechnete absichtliche Täuschungen. Nach der obigen Auf-
fassung sind sie aber "Votstellungsweisen, zu welchen auch der Dialektiker
nothwendig greifen muss, wenn er an die betreffenden Probleme rührt. (Vgl.
auch V. Sybel, Piatons Symposion S. 52 ff.) Eben darin liegt ihre Verwandt-
schaft mit den Ideen resp. Postulaten Kants, welche ja nothwendige Producte
der normalen menschlichen Vernunft überhaupt sind. In jener Auffassung der
Platonischen Mythen stimme ich ganz mit Auefaeth überein ; treffend bemei-kt
derselbe S. 113 : Diese ^bildlichen Vorstellungen .... sind so zu sagen Blumen,
mit denen die Einbildungskraft die Kluft überbrückt, die das Denken nicht
ausfüllen kann. Auch Plato steht unter diesem Gesetz; und wenn man ihm
das als Schwäche anrechnen wollte, nun wohl, so wäre es eine, die nicht an den
Namen Plato, sondern an den Begriff Mensch sich knüpft. Weiter kann Keiner. "
'■') üeber die Verwandtschaft Piatons mit Kant vgl. ferner noch Pelei-
deree, Socrates und Plato, S. 151, 441, 442. 444, 457 ff., f)22, 669 ; Lutoslawski,
Origin and growth of Platon's Logic, S. 340.
Kant — ein Metaphysiker ? 157
als bei Platoii. Dem Schlagwort: „Kant ein Metaphysiker" kann
man das gleichwerthige gegenüberstellen: „Kant e4n Metaphoriker".
Damit stehen Avir dann freilich bei der Kantinterpretation vor
denselben Schwierigkeiten wie bei Piaton. Thatsächlich fragt auch
Heman in dem oben citirten Artikel: was ist ans Kants Darstel-
lung des mundus intelligibilis als „ernst zu nehmen", was ist „we-
sentlicher Bestandtheil des Systems", was ist nur „Anbequemung"
und Bild? Genau dieselbe Fragestellung fanden wir bei
den oben citirten Piatoninterpreten. Gerade die neuerdings so
gewachsene Beachtung der Vorlesungen und Reflexionen Kants
fiüirt nothwendig zu dieser Fragestellung, die so auffallend erinnert
an die „Platonische Frage". So hätten wir zu den Ijisherigen Pro-
blemen der Kantinterpretation eine neue Kantfrage, welche in dieser
Form und Dringlichkeit früher nicht vorhanden w^ar. Latent war
sie wohl da, und der und jener hat sie mehr oder weniger gestreift,
aber sie ist erst jetzt, insbesondere auch durch die HEiNZE'sche Be-
arbeitung der Vorlesungen Kants über Metaphysik dringend ge-
worden. In diesen Vorlesungen, auf die sich auch Paulsen gerne be-
ruft, geht ja Kant sehr viel dogmatischer zu AVege, als in seiner
Kr. d. r. V. Die oft so kühnen Ausblicke Kants, welche Kant in
jenen Vorlesungen in den mundus intelligibilis thut, erinnern uns
aber an dasjenige, was Kant in der Kr. d. r. V. über „transcen-
dentale Hypothesen" sagt, in dem Abschnitt der IMethodenlehre :
Die Disciplin der reinen Vernunft in Ansehung der Hypothesen.
Da heisst es, dass dieselben nicht „im Ernste behauptet" werden,
dass es vielmehr „Privatmeinungen'- sind, welche man „zur inneren
Beruhigung'' nicht entbehren kann (und dann folgt die oben S. 146
citirte scharfe Stelle gegen deren „a])solute Gültigkeit"). Nun wohl.
Ganz so spricht Piaton über seine „eixote; [xOO-o'-", wie Kant über
seine „transcendentalen Hypothesen". Wie diese beiden Ausdrücke
sich trefflich correspondiren, so auch das über sie Gesagte: auch
Piaton l)ehauptet seine \i\)d-oi nicht „im Ernste": sie sind Tüaioiä
gesprochen, Avie es im Phädrus 265 c heisst, und der Timäus 59 d
Aviederholt, es handle sich dabei nur um r.y.'.0'J.. Und auch das
andere Kantische Alotiv der „Beruhigung gegen sich regende Skrupel"
flndet sich wörtlich bei Piaton in der bekannten Stelle des Phädon
77 e: „law; svi z'.z 7.at sv y^ixöv -ai;, öaxt; xa toiaüTsc -^o'^jzI-oi.: . . . .
ü'jKzp -ra ixopixoAuxc'.a. 'A/.Aa yßi .... sraoctv auKö. El)enso ib.
114 d. Dies eTzaosiv xo) r.x'.oi — die „Beschwörungen für das Kind
in uns'-, wie Schleiermacher's berühmte Stelle lautet — Pflei-
158 H. Vaihinger: Kant — ein Metaphysiker ?
DERER a. a. O. 422 übersetzt es richtig und genau mit dem Kan-
tisclien Worte : „Beruhigung". So hellen sich auch hier Piaton und
Kant gegenseitig auf.
10. Hiermit schliessen wir unsere Bemerkungen zu Paulsen's
Kantbuch, welche freilich zuletzt aus Mangel an Raum und Zeit
ins Aphoristische übergehen mussten. Es bietet sich wohl in den
letzten Theilen meines Kantcommentars Gelegenheit, um insbeson-
dere das, was über Kants Postulate nur andeutungsweise gesagt
werden konnte, weiter auszuführen ; vielleicht nimmt auch irgend ein
anderer Forscher Veranlassung, den Gegenstand in der einge-
schlagenen Richtung weiter zu verfolgen. Man wird immer wieder
zu dem Resultat gelangen, dass in Kant wohl, um mit Paulsen zu
sprechen, ein Metaphysiker steckt, aber ein Metaphysiker ganz ei-
gener Art: es ist eine kritische Metaphysik, bei der nicht nur, wie
Paulsen meint, die Art der Begründung eine andere ist, als bei
den alten Dogmatikern, sondern auch die Art des Begründeten
selbst. Paulsen meint, nur die Form sei geändert, der Inhalt sei
derselbe. Aber die formelle Aenderung, welche Kant an den alten
Lehren der Dogmatiker vorgenommen hat, ist eine so tiefgreifende,
dass auch der Inhalt nicht derselbe geblieben ist: der ontologische
Charakter derselben ist geändert, nicht bloss, wie Paulsen meint,
ihr logischer AVerth. Ob man darnach Kant noch einen Metaphysiker
nennen mag, hängt davon ab, wie man Metaphysik definirt. So könnte
die Controverse als ein blosser AVortstreit erscheinen. Lassen wir
Paulsen das Wort — zumal es Kant selbst von seiner Philosophie
gelegentlich gebraucht. Aber bleiben wir um so fester in der Sache.
Ich kann diese Bemerkungen aber nicht schliessen, ohne zu
wiederholen, was ich schon in meiner Recension des PAULSEN'schen
Kantbuches in der JMainummer 1899 der „Philosophical Review" ge-
sagt habe — unbeschadet der Bedenken, welche ich gegen den Haupt-
punkt der PAULSEN'schen Darstellung Kants äussern zu müssen
glaubte, darf ich wol gestehen, dass ich der Leetüre des auch stilistisch
ausgezeichneten Werkes ebenso viel Genuss als Anregung verdanke.
Das Buch, neben aller — nicht selten zu weit gehenden — Kritik
Kants mit wohlthuender Wärme für Kant geschrieben, wird dem
Königsberger Weisen viele neue Verehrer zuführen. Aber nicht
bloss ihm. Auch sein Verfasser selbst wird, wie sein Buch die
Geister erregt, auch neue Herzen sich erobern : denn das Buch hat,
was so vielen historischen Darstellungen fehlt : es hat Charakter und
es bekennt Farbe.
Postado por Marcos Alberto de Oliveira às 22:39 0 comentários
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